Forschung | WIAS | 17-12-2020

Mit Mathematik die Krise verstehen

In der Corona-Krise schaut plötzlich die ganze Welt nicht nur auf die Forschungsergebnisse der Virologen, sondern auch auf die der Mathematiker: Wie schnell breitet sich das Virus in der Bevölkerung aus? Welche Wege nimmt die Infektion? Und wann können wir wieder ins Fußballstadion? Auch im Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik (WIAS) haben sich Mathematiker mit der Pandemie befasst.

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Im März drang die Coronavirus-Pandemie in Deutschland schlagartig in den Fokus der Berichterstattung. In den Medien wurde über exponentielles Wachstum diskutiert, Begriffe wie Verdopplungszeit und  Reproduktionszahl machten die Runde. Es erfolgte ein gesamtgesellschaftlicher Aufruf zu „flattening the curve“ und plötzlich interessierte sich sogar die Tagesschau für Mathematik.

Um die aktuellen Geschehnisse besser einordnen zu können, begann Dr. Markus Kantner vom WIAS, sich während seines Urlaubs intensiv mit der mathematischen Modellierung von Epidemien zu beschäftigen. Vor dem Hintergrund der Fernsehbilder aus Bergamo, der Debatte um die kontrollierte Durchseuchung der Bevölkerung zum Erreichen von „Herdenimmunität“ in Großbritannien und den unklaren Aussichten auf eine baldige Impfstoffentwicklung wurden diverse Interventionsstrategien auf Basis von Simulationsrechnungen zunehmend öffentlich diskutiert. Kantner berichtet: „Es gab zahlreiche Modellrechnungen, bei denen der Einfluss spezieller Maßnahmen analysiert wurde. Was passiert, wenn man die Schulen schließt? Oder die Geschäfte?“ Die Simulationen zeigten, dass sich durch die Maßnahmen zur Kontaktreduktion das Infektionsgeschehen zwar verlangsamen ließe, es nach deren Beendigung aber stets zu einer zweiten Welle kommt. Der Mathematiker fragte sich: „Wie sollte man optimalerweise vorgehen?“

Kantner hat dann ein auf bestimmte Aspekte von Covid-19 zugeschnittenes epidemiologisches Modell genommen und mit Methoden der Optimalsteuerungstheorie behandelt. Ziel der Studie war es, den optimalen zeitlichen Verlauf der mittleren Kontaktreduktion zu berechnen, bei dem einerseits die Zahl der Sterbefälle minimiert wird, andererseits aber eine zweite Welle nach Beendigung der Intervention ausgeschlossen ist. Weiterhin sollten die sozioökonomischen Kosten der Intervention möglichst gering gehalten werden (s. Kasten).

Der Wissenschaftler hat seine Ergebnisse in einem Manuskript zusammengefasst und dieses mit seinem WIAS-Kollegen Dr. Thomas Koprucki per Videokonferenz diskutiert. Kantner berichtet: „Ich musste kaum
etwas erklären. Thomas steckte bereits voll im Thema drin.“ Koprucki hatte die aktuellen Fachpublikationen und Modellierungsaktivitäten anderer Forschergruppen zu dem Thema verfolgt und konnte das Manuskript seines Kollegen gleich gut einordnen. Gemeinsam haben sie die Ergebnisse weiter analysiert und das Manuskript im Homeoffice vervollständigt.

Haben die Mathematiker nun einen Vorschlag entwickelt, wie man den Pandemieverlauf optimal steuern kann? Kantner antwortet: „So einfach ist es nicht. Unserem Ergebnis liegen bestimmte Modellannahmen zugrunde. Im Falle eines makroskopischen Infektionsgeschehens ist unser Weg zwar optimal, aber gleichzeitig auch entweder extrem teuer oder extrem gefährlich. ‚Optimal‘ bedeutet also nicht zwingend auch ‚gut‘.“ Die Mathematiker schlagen stattdessen vor, eine weitgehende Eindämmung des Virus anzustreben, sodass ein Zustand erreicht wird, in dem das Infektionsgeschehen durch Einzelfälle und stochastische Fluktuationen bestimmt ist. Koprucki betont: „Wir sollten dahin kommen, dass wir einzelne Infektionsketten nachverfolgen und unterbrechen können.“ Von diesen Maßnahmen wären nur überschaubare Teile der Bevölkerung betroffen, die große Mehrheit hätte ein weitgehend normales Leben. Koprucki ergänzt: „Damit unterstützt unser Ergebnis die Position der großen Forschungsorganisationen und Wissenschaftsgesellschaften.“

Text: Gesine Wiemer