Forschung | IZW | 27-02-2019

Wenn alles zu spät ist – Ein internationaler Rettungsversuch

Weltweit gibt es nur noch zwei Nördliche Breitmaulnashörner – beides Weibchen. Kann die Unterart der „weißen Nashörner“ trotzdem in letzter Minute vor dem Aussterben bewahrt werden? Ein Rettungsversuch.

Die Letzten ihrer Art: Die Nördlichen Breitmaulnashörner Najin und Fatu | Foto: Jan Stejskal

16. April, 9:30 Uhr. Im „Silesian Zoological Garden“ in der polnischen Stadt Chorzow beginnt Dr. Frank Göritz mit den Vorbereitungen für einen ganz besonderen Eingriff. Bei dem zweieinhalb Tonnen schweren Südlichen Breitmaulnashorn mit dem programmatischen Namen „Hope“ sollen etwa 100 µm große Eizellen gewonnen werden. Göritz ist für die Vollnarkose von Hope verantwortlich und Teil des aus vier Wissenschaftlern bestehenden Leibniz-IZW-Teams. Nashornspezialist Dr. Robert Hermes platziert ein patentiertes Spezialgerät mit Ultraschallkopf in den Enddarm der Patientin, das Teamleiter Prof. Thomas Hildebrandt in Kooperation mit einem mittelständischen Unternehmen für Medizintechnik entwickelt hat. Es ermöglicht erstmals eine sichere Entnahme von Eizellen bei Nashörnern. Hildebrandt und Hermes müssen eine etwa zwei Meter lange Punktionsnadel in das Zentrum der Eibläschen positionieren, die sich an den stimulierten Eierstöcken von Hope befinden. Geht alles glatt, wird der Inhalt der Eibläschen mittels Vakuum in ein ebenfalls speziell entwickeltes Auffangsystem gesaugt. Dr. Susanne Holtze, die vierte im Bunde, überwacht den „Staubsauger“ für die Nashorneier.

Die Gewinnung von lebenden Eizellen ist ein wichtiger Schritt für die Rettung der nördlichen Verwandten von Hope. Hildebrandt und sein Team trainieren die weltweit einmalige Technik der Eizellengewinnung an Südlichen Breitmaulnashörnern, um sie an den letzten beiden Nördlichen Breitmaulnashornkühen in der Ol Pejeta Conservancy in Zentralkenia – nur unweit vom Mount Kenya – zum Einsatz zu bringen. „Mist, irgendetwas funktioniert nicht“, ruft Hildebrandt. Noch ein Versuch, auch dieser misslingt. „Wir müssen abbrechen“, entscheidet Hildebrandt mit kritischem Blick zum Anästhesisten Göritz, der den Koloss nun etwas länger unter Narkose halten muss. Hermes zieht das Gerät aus dem After des Tieres und trägt es in den Nebenraum des Nashornstalls. Dort wird das Gerät im provisorisch aufgebauten Labor untersucht. „Die Nadel hat beim Transport aus Berlin Schaden genommen“, stellt Hildebrandt fest. Zum Glück haben die Wissenschaftler ein komplettes Ersatzgerät dabei – in einem langen schwarzen Koffer mit der Aufschrift „No guns – research equipment“. Nach dieser kleinen Unterbrechung kann die Prozedur der transrektalen Eizellengewinnung fortgesetzt werden. Die  Problemsituation stellt eine essenzielle Erfahrung für das Leibniz-IZW-Team dar:  In Kenia, an den letzten verbliebenen Vertretern der nördlichen Unterart des Breitmaulnashorns, können sie sich keine Fehler leisten.

Der 19. März 2018 markiert einen schwarzen Tag für den Artenschutz. An diesem Tag starb friedlich Sudan, der letzte männliche Vertreter des Nördlichen Breitmaulnashorns. Jetzt leben weltweit nur noch zwei Weibchen. Die Unterart gilt damit als „funktionell ausgestorben“ – auf natürlichem Wege wird es keine Nachkommen mehr geben. Als der Wissenschaftler Richard Lydekker im Jahr 1908 diese Tiere erstmals wissenschaftlich beschrieb, grasten noch hunderttausende von ihnen in den Savannen und Sumpflandschaften Zentralafrikas. In den 1960er Jahren zählte die Population in der Wildnis nur noch 2.250 Tiere. Großwildjäger und Wilderer rotteten das Nördliche Breitmaulnashorn innerhalb von Jahrzehnten systematisch aus. Der steigende Bedarf nach Horn in den asiatischen Ländern – allen voran Vietnam und China – ist unverändert groß. Die Hörner werden als Trophäen, Statussymbol und für die Traditionelle Chinesische Medizin illegal gehandelt. Die UNO schätzt, dass Händler jedes Jahr mehr als 200 Milliarden Dollar mit dem Handel illegaler Tierprodukte umsetzen.

Anfang der 1990er verblieben im Garamba National Park im Kongo nur noch 15 Nördliche Breitmaulnashörner – Ursache der drastischen Dezimierung war Wilderei. Im Nationalpark wurden die Tiere in der Folge von Naturschützern und Wildhütern strengstens bewacht und die Population wuchs langsam auf mindestens 32 Tiere an. Der Ausbruch des kongolesischen Bürgerkriegs 1996 setzte diesen ersten Schutzerfolgen ein jähes Ende. Der Park wurde von schwer bewaffneten Rebellen und Wilderern heimgesucht, die mit dem Verkauf der gewilderten Nashörner ihre Kriegskasse aufbesserten. Um 2005 gab es im Nationalpark nur noch vier Exemplare, 2008 erklärte die Weltnaturschutzunion IUCN das Nördliche Breitmaulnashorn für „in der Wildnis ausgestorben“. Die letzten beiden Nördlichen Breitmaulnashörner sind Sudans 29 Jahre alte Tochter Najin (*1989) und deren 18-jährige Tochter Fatu, auch Milleniumsbaby genannt (*2000). Beide Weibchen wurden im tschechischen Safari-Park Dvůr Králové geboren und großgezogen, bevor sie nach Kenia transportiert wurden.

Unter diesen Vorzeichen scheint die Rettung der Unterart unmöglich – wie können sich zwei Weibchen fortpflanzen? Doch Hildebrandt, seine Kollegen und viele internationale Partner geben noch nicht auf und stellen sich der Herausforderung unter Einsatz modernster Forschungsansätze. „Dieser wichtige Landschaftsarchitekt im zentralen Afrika ist nicht ausgestorben, weil sein Bauplan in der Evolution gescheitert ist“, erklärt Hildebrandt. „Die Tiere wurden vom Menschen aufgrund der Gier nach seinem Horn systematisch ausgerottet.“  Jetzt liege es auch an den Menschen, diesen schwerwiegenden ökologischen Fehler durch gezielte Maßnahmen zu korrigieren.

Die genauen ökologischen Folgen des Verschwindens des Nördlichen Breitmaulnashorns sind noch nicht abschätzbar. Jedoch ist offenkundig, dass viele andere Tierarten von den Nashörnern profitieren. Durch ihr Grasen halten sie Flächen offen und verändern damit Landschaftsstrukturen, die für andere Arten von Vorteil sind. Stirbt solch eine wichtige „Regenschirmart“ aus, verlieren auch viele andere Arten ihre Lebensgrundlage. „Es ist wichtig zu verstehen, dass wir als Menschen unsere eigene Lebensgrundlage verlieren, je mehr natürliche Ressourcen wir vernichten. Unsere große Hoffnung ruht auf dem Wirken zukünftiger Generationen, die sicher verantwortungsvoller mit unserem Planeten umgehen werden“, betont Hildebrandt. Was ist uns die Welt wert? Die aktuelle Diskussion zum Thema Inwertsetzung – der Wert der Natur für Wirtschaft und Gesellschaft – ist wichtiger denn je. Hier zeigt sich, welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen unser Handeln hat. Moderner Artenschutz heißt, früh zu erkennen, welche Arten bedroht sind. Das ermöglicht ein schnelles Gegensteuern und spart Ressourcen und erhält Lebensgrundlagen. Damit das Nördliche Breitmaulnashorn noch eine Chance bekommt, setzt das internationale Team innovative Technologien ein.

Selbst wenn es noch Bullen gäbe, könnten Najin und Fatu auf natürlichem Wege keinen Nachwuchs mehr bekommen. Ihre Fortpflanzungsorgane sind mittlerweile erkrankt, was häufig vorkommt, wenn Wildtiere längere Zeit ohne Nachwuchs bleiben. Die 29-jährige Nashornkuh Najin hat zusätzlich Probleme mit ihren Achillessehnen und könnte die Last eines Babys und seiner Fruchthüllen von bis zu 100 Kilogramm nicht mehr tragen. Die 16 Monate dauernde Trächtigkeit bei Nashörnern ist auch mit erheblichen Veränderungen des mütterlichen Blutkreislaufes verbunden, welches für Najin eine weitere, nicht lösbare Herausforderung darstellen würde. Die Wissenschaftler wollen deshalb den beiden Weibchen Eizellen, wie bei „Hope“ erprobt, entnehmen und sie im Labor mit dem eingefrorenen Spermium eines bereits verstorbenen Nördlichen Breitmaulnashornbullen befruchten. Noch gibt es in der Kryobank des Leibniz-IZW Sperma von vier nördlichen Bullen. Entwickelt sich daraus ein Embryo, soll dieser dann einem Südlichen Breitmaulnashorn eingesetzt werden. Das Kalb soll schließlich mit seinen direkten Verwandten Najin und Fatu aufwachsen.

Für eine gesunde, sich selbst erhaltende Population, wäre die genetische Vielfalt aber zu gering. Je größer die Vielfalt, desto eher können sich Arten an veränderte Umweltbedingungen anpassen und überleben. Daher forscht das Team an einer zweiten, bahnbrechenden Methode, die Keimzellen mithilfe der Stammzelltechnologie entwickeln soll: Eingefroren in Kryobanken in Berlin und San Diego liegen noch lebende Hautzellen, die in der Vergangenheit von 13 Nördlichen Breitmaulnashörnern entnommen wurden. Aus diesen Zellen sollen in mehreren Schritten zunächst sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPSC) und dann primordiale (ursprüngliche) Keimzellen generiert werden. Primordiale Keimzellen haben im Gegensatz zu reifen Keimzellen einen doppelten Chromosomensatz und können später in Eizellen und Spermien umgewandelt werden. Aus ihnen lassen sich viele Embryos im Labor herstellen. Diese Reagenzglas-Embryos könnten dann wieder in Leihmüttern der südlichen Vertreter eingesetzt werden und zu normalen nördlichen Breitmaulnashornbabies heranwachsen. Diese Methode würde die geringe genetische Vielfalt der zukünftigen Nördlichen Breitmaulnashornpopulation wesentlich erhöhen.

Hildebrandt betont: „Ein nachhaltiger Rettungsversuch, unter Einsatz von Hochtechnologie, ist nur mit vielen Kooperationspartnern und einer entsprechenden, finanziellen Ausstattung – die bisher nicht gegeben ist – möglich.“ Das Leibniz-IZW kooperiert in diesem Projekt mit dem italienischen Reproduktionslabor AVANTEA, dem tschechischen Safari Park Dvůr Králové, dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz Gesellschaft (MDC) in Berlin, dem Münchener Diabetes-Zentrum der Helmholtz-Gemeinschaft, der Universität Kyūshū in Japan und Partnern aus den USA. Gemeinsam wollen die Wissenschaftler eine Blaupause für den Artenschutz entwickeln, die für stark bedrohte Tierarten als letztes Mittel der Wahl zum Einsatz kommen kann. „Hier eröffnet uns die moderne Wissenschaft eine einzigartige Möglichkeit, quasi ausgestorbene Arten doch noch zu retten. Dennoch würden wir uns wünschen, dass diese Technologie nie zum Einsatz kommen muss. Man darf es einfach nicht soweit kommen lassen“, betont Hildebrandt.

In Chorzow schläft Hope noch immer tief und atmet gleichmäßig. Der Schweiß rinnt Hildebrandt über die Stirn. Er trägt die mit Follikelflüssigkeit gefüllten Reagenzgläser, die dem Nashorn soeben entnommen wurden, an die Mikroskop-Station, setzt seine kleine Brille auf und füllt die gewonnene Flüssigkeit in sterile Petrischalen. Dann plötzlich ein Lächeln auf seinem Gesicht, er hat eine. Mit einer Pipette saugt er eine Nashorneizelle an und platziert sie in einen Transportbehälter. Hildebrandt weiß, dass mit jeder Eizelle das gesamte Team dem Ziel – der Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns – einen Schritt näher kommt.

Text: Steven Siong Meng Seet

Unterstützten Sie uns bei der Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns: https://nwrextinction.org/

Leibniz Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW)
Steven Seet
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