Forschung | IKZ | 27-04-2022

Was geschah mit der Antimaterie?

Mit hochreinen Germanium-Einkristallen aus dem Leibniz-Institut für Kristallzüchtung (IKZ) wollen Astrophysikerinnen und Astrophysiker eines der größten Rätsel des Universums lösen.

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Zu fast jedem der 37 Elementarteilchen, den subatomaren Teilchen, gibt es das entsprechende Antiteilchen. Als beim Urknall vor rund 13,8 Milliarden Jahren Raum, Zeit und Materie entstanden, müsste sich nach Berechnungen der Physik also auch etwa die gleiche Menge Antimaterie gebildet haben. Doch heute ist das Weltall voll von Sternen, Planeten und anderen Himmelskörpern – die Suche nach Antimaterie blieb bisher jedoch erfolglos. Warum?

Aufschluss geben könnte der Nachweis des hypothetisch vorhergesagten „neutrinolosen Doppel-beta-Zerfalls(0nββ)“ des radioaktiven Germanium-Isotops 76 zu 76-Selen. Dabei zerfallen zwei Neutronen in zwei Elektronen, zwei Protonen sowie zwei Neutrinos. „Letztere wären aber nicht nachweisbar, weil – wenn die Theorie stimmt, dass Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind – sie sich sofort nach Entstehung gegenseitig auslöschen“, sagt PD Dr. Radhakrishnan Sumathi, Leiterin der Sektion Halbleiter am IKZ. „Zugleich würde dies auch die Leichtigkeit der Neutrinos erklären und Hinweise darauf liefern, warum Materie im heutigen Universum viel häufiger ist als Antimaterie.“

Ganz einfach ist das nicht. Denn die Halbwertzeit von 76-Ge ist mit größer als 1 x 1026 (!) Jahren extrem lang (mehr als eine Milliarde Millionen Mal das Alter des Universums), so dass dieser Zerfall beim Vorläuferexperiment GERDA – Laufzeit: 2015 bis 2020 – mit 40 Kilogramm hochreinem Germanium nur mit geringerer Empfindlichkeit beobachtet werden konnte (obwohl es damals die beste Empfindlichkeit der Welt war). Nun soll eine größere Menge dieses Halbleitermaterials die Wahrscheinlichkeit erhöhen. Bei LEGEND (Large Enriched Germanium Experiment for Neutrinoless Double beta decay), einem Projekt im Laboratorium von Gran Sasso (Italien), an dem 50 Forschungseinrichtungen in Europa, den USA und Kanada beteiligt sind, sollen nun 200 Kilogramm zum Einsatz kommen. Denn: Je größer die Anzahl der Germanium-Atome, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit des Zerfallsprozesses und das Entdeckungspotenzial.

Einkristalle von extrem hoher Reinheit sind dafür gefragt. Und die sind selbst für das IKZ eine echte Herausforderung. „Für Silizium-Halbleiterkristalle zur mikroelektronischen Anwendung reicht eine Reinheit von 99,9999 Prozent – hierfür brauchen wir aber Germanium mit 99,9999999999 Prozent! (ppt-Niveau Reinheit)“ sagt Radhakrishnan Sumathi. Sie ist IKZ-Projektleiterin des gleichnamigen LEGEND-Projektes des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, an dem außerdem die Technische Universität München, die Technische Universität Dresden und die Universität Tübingen beteiligt sind.

Der Weg zu solch extremer „ultra-hoher“ Reinheit ist lang und steinig. Natürliches Germanium besteht aus fünf Isotopen und enthält nur 7,8 Prozent 76-Ge. Es muss also aufwendig angereichert werden. „Dementsprechend teuer ist das Rohmaterial, das unser Partner in Form von Germaniumdioxid-Pulver (GeO2) von der Firma ECP in Russland bekommt“, erzählt Sumathi. Das Oxid wird zuerst mit Wasserstoff zu elementarem Germanium-Metall reduziert. Das enthält aber noch Verunreinigungen – kleine Mengen von Elementen wie Aluminium, Bor und Phosphor.

„In einem mehrwöchigen Zonenschmelzprozess segregieren sich die Verunreinigungen am Anfang und Ende des Barres und diese Bereiche schneiden wir dann ab“, erklärt Sumathi das Vorgehen. Aus dem Zwischenteil wird nun nach der Czochralski-Methode ein Einkristall gezüchtet. Das 76-Ge wird sowohl als ββ-Quelle als auch als -Detektor verwendet – und für letzteres müssen die Einkristalle nicht nur hochrein sein, sondern ganz bestimmte Zusatzkriterien erfüllen. „Wir brauchen 100 bis 10.000 Fehlstellen pro Quadratzentimeter. Andersfalls hätte der Kristall entsprechend zu viele Punktdefekte oder Versetzungen, die das Hintergrundrauschen verstärken könnten“, erklärt Sumathi. Sind es jedoch zu viele Fehlstellen, wird der Kristall wieder eingeschmolzen und erneut gezüchtet.

Alle Schritte – vom Oxidpulver bis zum Einkristall – werden im Reinraum unter Wasserstoffatmosphäre durchgeführt. Und unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Denn wenn ein Funke den Wasserstoff an der Luft entzünden würde, käme es zur Explosion.

Neutrinos sind elektrisch neutrale Teilchen von extrem geringer Masse. Sie bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit und durchdringen dabei ungehindert Materie – auch menschliche Körper –, ohne Spuren zu hinterlassen. Um ihre Entstehung (und Auslöschung) detektieren zu können, müssen die Versuchsanlagen optimal abgeschottet sein. Denn die Sonne erzeugt bei den Kernfusionen in ihrem Inneren ebenfalls Neutrinos und schleudert jede Menge Richtung Erde. Außerdem muss hochenergetische Strahlung aus dem Kosmos und der Atmosphäre vermieden werden. Deshalb wird das LEGEND-Experiment im Gran Sasso-Laboratorium unterhalb des Apennin nahe LʼAquila durchgeführt. Unter 1.400 Metern Fels, gut abgeschirmt vor kosmischer Strahlung.

„35 Kilo 76-Ge aus dem 76-GeO2 Pulver für LEGEND-200 haben wir bereits am IKZ prozessiert. 80 Kilo aus den vorherigen Experimenten GERDA (Europa) und MAJORANA (USA) werden erneut eingesetzt“, erzählt Sumathi. Wann startet das Experiment? „In Gran Sasso werden gerade die Detektoren in der experimentellen Einrichtung angeordnet. Anfang 2022 wird alles fertig sein und das Experiment kann beginnen.“ Und dann heißt es warten... warten... warten... Auf einen kleinen Peak bei 2.039 Kilo-Elektronenvolt – den Beweis des neutrinolosen Doppel-beta-Zerfalls.

LEGEND-200 ist nur ein Zwischenschritt. Um die Sensitivität des Experiments weiter zu steigern, plant das Konsortium bereits ein zukünftiges Experiment mit 1.000 Kilo 76-Germanium (ton-scale Experiment). Im Reinraum des IKZ werden die Germanium-Kristallzüchtungsöfen und andere Prozessöfen also weiter auf Hochtouren laufen.

PD Dr. R. Radhakrishnan Sumathi

PD Dr. R. Radhakrishnan Sumathi ist Leiterin der Sektion Halbleiter und stellvertretende Leiterin der Abteilung Volumenkristalle am IKZ. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Nischenforschung und Weiterentwicklung von elementaren und Verbindungshalbleitermaterialien (Si, Ge, SiGe, III-Vs, II-VIs) für verschiedene Anwendungen, um Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu finden. Sumathi promovierte in Physik an der Anna University, Chennai, Indien, und habilitierte sich in Materialwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihr Forschungsinteresse gilt auch Halbleitern mit breiter Bandlücke und modernen Funktionsmaterialien.

Leibniz-Institut für Kristallzüchtung (IKZ)
PD Dr. R. Radhakrishnan Sumathi
Tel. 030 6392-3127
E-Mail radhakrishnan.sumathiikz-berlin.de