Interview | FMP | 05-09-2019

„Alzheimer ist überwiegend eine Frage der Lebensführung“

Gesund und fit alt werden – wer möchte das nicht? Wäre da nicht ein Gedanke, der wie eine dunkle Wolke die Aussicht auf ein langes, aktives Leben verdüstert. Was, wenn ich einmal Alzheimer bekomme...?

Prof. Dr. Dr. h.c. Konrad Beyreuther ist Biochemiker und einer der weltweit führenden Alzheimerforscher. In den 1990er-Jahren entdeckte er das Amyloid-Vorläuferprotein (APP). Er lehrte in Köln und Heidelberg. Nach seiner Emeritierung baute Beyreuther das Netzwerk Alternsforschung der Universität Heidelberg (NAR) auf, dessen Direktor er bis heute ist. Vor dem Frühstück macht der heute 78-Jährige täglich 30 Minuten Sport, darunter 20 (!) Liegestütze. Er fährt seit 30 Jahren mit dem Rad ins Institut und ernährt sich „genussvoll ausgewogen“. | Foto: David Ausserhofer/LFV Healthy Ageing

Doch wie begründet ist die Sorge, an der mit Abstand häufigsten Demenzform zu erkranken? Zeit für ein Gespräch mit dem renommierten Alzheimerforscher Prof. Konrad Beyreuther, der beim „3rd InternationalSymposium Healthy Ageing“ – organisiert vom Leibniz-Forschungsverbund Healthy Ageing und Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) – vorgetragen hat.

Wir werden immer älter. Bis vor wenigen Jahren dachte man, allein deswegen würde die Zahl der Alzheimerkranken dramatisch ansteigen. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Wie kommt’s?

Konrad Beyreuther: In der Tat sehen wir in den westlichen Industrieländern einen Rückgang der Neuerkrankungen um etwa 25 Prozent bei der Nachkriegsgeneration gegenüber den Generationen zuvor. Das hat zwei Ursachen.
Zum einen gab es eine kognitive Revolution. Demenz ist Verlust erworbenen Wissens – und die Menschen haben heute einfach viel mehr Wissen. Dementsprechend verfügen sie über deutlich mehr Nervenzellkontakte und ein gut
vernetztes Gehirn kann Zellverluste besser ausgleichen. „Herr Alzheimer“ hat es also viel schwerer diese Leute in die Knie zu zwingen. Das zweite ist die kardiovaskuläre Revolution. Dank des medizinischen Fortschritts können wir
Infarkte frühzeitig behandeln, Thromben und alk via Katheter entfernen und sogar Herzklappen minimalinvasiv austauschen. Das Herz ist ein sehr wichtiges Organ für ein funktionierendes Gehirn. Wir können zwar zwei Stunden laufen, ohne essen zu müssen – doch im Gehirn haben wir gerade mal genug Zucker, um fünf Minuten zu denken. Das Herz muss also ständig Zuckernachschub zu den Nervenzellen pumpen. In Entwicklungsländern, wo es Ernährungsdefizite gibt und Grundschule noch keine Pflicht ist, sehen wir diesen Rückgang übrigens nicht! Armut ist der größte Risikofaktor für Demenz. Das wird leider immer vergessen.

Vor allem Menschen, deren Eltern an Alzheimer erkrankten, haben Angst, dass ihnen das gleiche Schicksal droht. Zu Recht?

Nein. Alzheimer ist keine Frage der Vererbung. Wir wissen, dass nur 0,1 Prozent von einer bestimmten Genmutation unweigerlich in die Krankheit gezwungen werden. Dann gibt es noch 30 Gene, die bei sieben Prozent der Erkrankungen eine Rolle spielen. Wir wissen, dass bei 50 Prozent der Alzheimerpatienten das Gen für das Cholesterintransportprotein ApoE-e4 verändert ist, weshalb sie zu viel Cholesterin im Blut haben. Wenn man das senkt und so verhindert, dass es zu Hirnschlägen oder Infarkten kommt, verschwindet das ApoE-e4-Risiko! Bleiben nur noch 3,9 Prozent. Das heißt: Bei 96,1 Prozent der Menschen hängt das Alzheimerrisiko von der Lebensführung ab und ist kein unabwendbares Schicksal. Das ist eine wirklich gute Nachricht.

Was sind die Hauptrisikofaktoren für Alzheimer?

Wir kennen acht: Diabetes gehört dazu, Übergewicht, ungesunde Ernährung und Rauchen. Dann Depressionen: Bedeutet weniger Nervenzellkontakte! Also sollte man eine Depression unbedingt behandeln. Auch unter Stress werden Kontakte zerstört. (Positiver Stress hingegen vermindert das Risiko). Bewegungsmangel und – ganz neu erkannt – Schwerhörigkeit. Hört jemand schlecht, kommen zu wenig neue Informationen im Gehirn an. Doch Hörhilfen gleichen
das gut aus.
Das Alter selbst ist übrigens kein Risikofaktor! Natürlich tritt die Krankheit da gehäuft auf. Was aber daran liegt, dass Alzheimer unbemerkt schon sehr früh beginnt: Mit erblichen Risikofaktoren (wie ApoE-e4) zwischen 20 und 40 Jahren – ohne ab 40.

Was kann man selbst tun, um sein Risiko zu minimieren?

Sich viel bewegen, Übergewicht abbauen, sich ausgewogen ernähren. Und ausreichend schlafen, mindestens sieben Stunden! Vor allem Tiefschlaf ist wichtig. Hier wird einerseits das, was wir am Tag gelernt und erfahren haben, bewertet, verarbeitet und in Nervenzellkontakte umgebaut. Andererseits werden aber auch Stoffwechselprodukte aus dem Gehirn wieder ausgewaschen. Über Aquaporine, feine „Abwasserkanäle“ in den Zellmembranen des Bluts. Die Autophagie anzukurbeln ist ebenfalls gut – also den Organismus durch Fastenzeiten anzuregen, nicht mehr benütze Zellbestandteile abzubauen und zu verwerten. Einmal pro Woche wenig zu essen oder zumindest zwischen der letzten und der ersten Mahlzeit des Tages zwölf Stunden verstreichen zu lassen, ist ratsam.

Was verstehen Sie unter ausgewogener Ernährung?

Nicht einseitig, sondern abwechslungsreich. Ausreichend Proteine (ein Gramm pro Kilogramm Körpergewicht), aber auch Kohlenhydrate und Fette sind wichtig. Warum Proteine? Wer sich bewegt, baut Muskeln auf und die bestehen nun mal überwiegend aus Eiweiß. Isst man zu wenig davon, holt sich der Köper das an anderer Stelle und bringt funktionstüchtige Zellen um, um an Proteine zu gelangen. Das ist nicht gut. Ein Müsli mit frischen Früchten zum Beispiel ist ein perfekter Start in den Tag. Viel Gemüse – wegen der Ballaststoffe, davon essen wir viel zu wenig! Fisch, wer es verträgt auch Fleisch (aber in Maßen), Soja, Hülsenfrüchte, mageren Käse. Aber bitte jeder nach seiner Façon. Denn Genuss und Lebensqualität sind aus meiner Sicht sehr wichtig für erfolgreiches Altern. Aber seht zu, dass ihr den Gürtel stets im selben Loch zubekommt, sag ich immer. Weihnachten, Ostern und Urlaub natürlich ausgenommen ;-).

Sie raten auch dazu bewusst eine „kognitive Reserve“ anzulegen. Wie geht das?

Es lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Lernen. Laufen. Lachen. Spiele wie Schach, Backgammon oder Memory – letzteres spiele ich selbst und werde immer besser! Viel lesen. Ballspiele wie Fußball, Tennis, Federball oder Golf sind gut, weil sie Koordination und Vorausdenken erfordern.
Und speziell Tanzen, sprich: Musik hören und in koordinierte Bewegung umsetzen, ist perfekt! Auch rege soziale Kontakte sind extrem wichtig. Pläne schmieden, seine Umwelt bewusst wahrnehmen. In jeder Beziehung aktiv zu leben – das
ist das beste Gedächtnistraining.

Nützt das noch etwas, wenn man das Gefühl hat schon etwas „tüddelig“ zu sein?

Auf jeden Fall. Das belegt die finnische Präventionsstudie FINGER, in die Menschen aufgenommen wurden, die bereits kognitiv auffällig waren. Sie mussten zunächst ihren Blutdruck senken, abnehmen und ihre Ernährung umstellen, sich dann 30 Minuten täglich bewegen, zweimal pro Woche Computerspiele machen sowie sich als Gruppe treffen und soziale Kontakte pflegen. Nachbeobachtungen zeigten, dass diejenigen, die an dem Programm teilgenommen hatten, sieben Jahre später als die Probanden der Kontrollgruppe in die Demenz abglitten.

Wie ist Ihre Prognose für die kommenden Generationen?

Ich denke, dass unsere Urenkel Alzheimer als Krankheit nicht mehr kennen werden.  Veränderungen im Gehirn werden zwar noch entstehen – aber zu ihren Lebzeiten werden sie sich nicht mehr manifestieren können. Warum? Durch das IT-Zeitalter werden die Menschen eine noch höhere kognitive Reserve haben als wir jetzt schon. Und sie werden sich mehr bewegen, weil sie wissen, wie wichtig das Herz für ihr Gehirn ist.
Es wird aber dennoch einige geben, die unverschuldet durch einen Schlaganfall oder Infarkt in die Krankheit rutschen. Für sie brauchen wir Medikamente. Aber bei derzeit 20.000 Alzheimerforschern weltweit bin ich zuversichtlich, dass es bald einen Durchbruch geben wird.

Alzheimer ist eine Folge vom Denken und der Gedächtnisbildung, sagen Sie. Heißt das im Umkehrschluss, wer nicht denkt, wird nicht dement?

Das stimmt. Tiere erkranken nicht an Alzheimer. Ob Papageien dement werden, ist noch nicht untersucht. Bei Hunden und Pferden finden wir die typischen Proteinablagerungen in den Blutgefäßen, aber nicht im Gehirn. Alzheimer ist eine menschliche Krankheit. Aber wie gesagt: Denken schützt eben auch!

 

Catarina Pietschmann