Pressemitteilung | IGB | 19-11-2020

Aquatisches Riesenbakterium ist ein Anpassungsgenie

Das größte Süßwasserbakterium, Achromatium oxaliferum, ist außerordentlich flexibel in seinen Ansprüchen, wie Forschende unter Leitung des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) nun herausfanden: Es lebt an Orten mit extrem unterschiedlichen Lebensbedingungen wie in heißen Quellen und Eiswasser.

Bilder der fluoreszierenden in-situ Hybridisierung einer eingefärbten Achromatium oxaliferum Zelle. | Foto: Mina Bizic, IGB

Die Bakterienstämme der verschiedenen Ökosysteme unterscheiden sich nicht in ihrem Erbgut, aber in ihren Genexpressionsmustern. Die Anpassung gelingt vermutlich durch einen für Bakterien einzigartigen Vorgang: Nur relevante Gene werden in den Genomen angereichert und abgelesen, die anderen bleiben für alle Fälle in Zellkammern archiviert.

Achromatium ist in vielerlei Hinsicht besonders: Es ist 30.000 Mal größer als andere im Wasser lebende Bakterien und dank seiner Kalkeinlagerungen sogar mit dem bloßen Auge erkennbar. Es hat einige hundert Chromosomen, die höchstwahrscheinlich nicht identisch sind. Damit ist Achromatium das einzige bekannte Bakterium mit mehreren verschiedenen Erbgut-Sätzen.

Die Forschenden haben Genarchive von Sedimenten analysiert und zeigen, dass Achromatium weltweit in vielen Ökosystemen verbreitet ist: im Flachwasser ebenso wie in 4000 Metern Tiefe im Ozean. Man findet es in heißen Quellen und eiskaltem Wasser; in sauren und alkalischen Umgebungen und in besonders salzhaltigen Gewässern.

Typischerweise führt ein solch breites Spektrum an Umweltbedingungen zur Etablierung neuer Arten mit unterschiedlichen Genomen, die jeweils an die jeweilige Umwelt bestens angepasst sind. Bei Achromatium ist es anders: Die Bakterien aus unterschiedlichen Ökosystemen haben das gleiche funktionelle Potenzial, unterscheiden sich aber in ihren Genexpressionsmustern, indem sie nur die jeweils relevanten Gene zur RNA-Synthese ablesen.

Zellkammern als Genarchiv

„Wir vermuten, dass die Anpassungen durch eine Erhöhung der Kopienzahl relevanter Gene über die Hunderte von Chromosomen erfolgen. Dies steht im Gegensatz zu anderen Bakterien, die irrelevante Gene verlieren. Die hohe Anzahl der Genome, und damit die hohe Diversität an funktionellen Genen, macht die vielfältigen Anpassungen also möglich“, erläutert Dr. Danny Ionescu, Leiter der Studie vom IGB.

Achromatium ist voll gepackt mit Kalziumkarbonat-Kristallen, die sich zwischen der äußeren und der zytoplasmatischen Membran befinden. Diese Kristalle falten die Zytoplasmamembran und bilden Taschen aus Zytoplasma, in denen, wie die Forschenden vermuten, Chromosomen-Cluster sitzen. Sie stellen die Hypothese auf, dass diese Cluster Achromatium in die Lage versetzen, Gene zu „archivieren", die keinen unmittelbaren Nutzen haben.

Keine Kopie der Mutterzelle: Jedes Bakterium ist einzigartig

„Die funktionelle Vielseitigkeit von Achromatium und seine genomischen Merkmale widersprechen völlig dem Konzept der Spezifikation, ihren Triebkräften und damit den Mechanismen der Artenbildung, wie wir sie für andere Bakterien kennen. So wird das Erbgut der Mutterzelle nicht als identische Kopie an die Tochterzelle weitergegeben, sondern jede neue Zelle ist einzigartig und besitzt eine Vielzahl an funktionellen Genen, die nicht unmittelbar für das Leben in einem spezifischen Lebensraum notwendig sind. Damit erhält sich jede Zelle das Potenzial, sich schnell an sehr unterschiedliche Umweltbedingungen anpassen zu können“, so das Fazit von Professor Hans-Peter Grossart, Koautor der Studie und Leiter der Arbeitsgruppe Aquatische Mikrobielle Ökologie am IGB.

Dr. Danny Ionescu
Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
E-Mail ionescuigb-berlin.de
Tel. 033082 69969

Prof. Dr. Hans-Peter Grossart
Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
E-Mail hgrossartigb-berlin.de
Tel. 033082 69991