Pressemitteilung | MBI | 31-03-2022

Elektronen schaukeln lange – Röntgenexperimente zeichnen ultraschnelle Ladungsdynamik in Kristallen auf

Ein Kristallgitter besteht aus einer großen Zahl von Einheitszellen mit einer identischen Anordnung von Atomen.

Abb. 1. (a) Stationäres Beugungsbild von cBN-Pulver, integriert über die Debye-Scherrer-Ringe und gemessen mit Femtosekunden-Röntgenimpulsen als Funktion des Beugungswinkels 2θ. (b) Zeitabhängige Intensitätsänderung des (111) Beugungsreflexes nach impulsiver Raman-Anregung mit 800-nm Anreg-Lichtimpulsen. (gefüllte Symbole, Mittelung über ein 1 ps langes Zeitinervall, offene Symbole, die gleichen Daten mit verschobenen 1 ps langen Zeitintervallen). Grüne Kurve: stufenartige Anpasskurve überlagert von Oszillationen mit einer Frequenz von 250 GHz. | MBI

Ein Kristallgitter besteht aus einer großen Zahl von Einheitszellen mit einer identischen Anordnung von Atomen. Phononen sind quantisierte Anregungen eines Kristallgitters, die Schwingungen seiner Atome entsprechen. Gemäß dem sog. adiabatischen physikalischen Bild folgen Elektronen den Bewegungen der Atomkerne ohne jegliche Verzögerung, d.h., Atomkerne und Elektronen bewegen sich gemeinsam. Während dieses Bild für Elektronen in den inneren Schalen eines Atoms gültig ist, versagt es für die Valenzelektronen, die sich die Atome innerhalb der Elementarzelle teilen. Eine spezielle Sorte von Phononen sind die sogenannten weichen Moden (engl. soft modes), bei denen die Elektronen über große interatomare Abstände bewegt werden und damit die elektrischen Eigenschaften des Kristalls verändern. Die Eigenschaften von soft modes wurden in den letzten Jahrzehnten zwar intensiv untersucht, sind aber weitgehend unverstanden. Für ein besseres Verständnis ist es notwendig, die zeitabhängigen Atompositionen und die Elektronendichte innerhalb der Einheitszelle synchron experimentell abzubilden. Hierbei spielt Femtosekunden-Röntgenbeugung eine Schlüsselrolle.

Forscher am Max-Born-Institut in Berlin haben jetzt Licht in das Rätsel gebracht und die konzertierte Bewegung von Elektronen und Atomkernen in kristallinen Festkörpern direkt abgebildet. Sie berichten in zwei vor Kurzem veröffentlichten Artikeln [1,2], wie Schwingungsbewegungen von Atomkernen Elektronenbewegungen hervorrufen, die sich über etwa 500 mal größere Distanzen erstrecken als die Auslenkungen der Atomkerne selbst. Mit Femtosekunden-Röntgenbeugung wurden zwei prototypische polykristalline Materialien  untersucht, kubisches Bornitrid (cBN) [1] und Kaliumdihydrogenphosphat (KH2PO4, KDP) [2]. Die Experimente führten zur Entdeckung von zwei verwandten Phänomenen. (i) Die Anregung von akustischen Zonenrand-Phononen in cBN ist mit einer Verlagerung von Valenzelektronen aus Zwischengitterplätzen der Einheitzelle auf die Atome verbunden, was zu einer räumlichen Konzentration der Elektronendichte führt. (ii) Die kohärente Anregung einer niederfrequenten soft mode in paraelektrischem KDP führt zu ausdauernden Schaukelbewegungen von Valenzelektronen zwischen verschiedenen Atomen innerhalb  der Einheitszelle.

Das Team baute hierzu ein Röntgenbeugungsexperiment mit Femtosekunden-Zeitauflösung auf, welches in Kombination mit der sogenannten Maximum-Entropie-Methode erlaubt, Schnappschüsse der momentanen Elektronenverteilung in der Einheitszelle des jeweiligen Kristalls aufzunehmen. Röntgenbeugung erfasst Elektronen in den inneren Schalen nahe am Atomkern und  Valenzelektronen und stellt somit das perfekte Werkzeug dar, um die Atompositionen und die Valenzelektronendichte auf atomaren Längen- und Zeitskalen zu verfolgen. In den Experimenten löst ein ultrakurzer optischer Lichtimpuls mittels impulsiver Raman-Streuung atomare Schwingungsbewegungen, d.h. Phononanregungen in einer Pulverprobe aus, die aus vielen kleinen Kristalliten besteht. Femtosekunden-Abtastimpulse harter Röntgenstrahlung werden dann an der angeregten Probe gebeugt. Aus dem Beugungsbild lässt sich dann die augenblickliche Elektronendichtekarte der Einheitszelle rekonstruieren. Verändert man nun die Ankunftzeit des Röntgen-Abtastimpulses gegenüber der des Anreg-Lichtimpulses lässt sich ein Film drehen, der die Zeitentwicklung der Atompositionen und Elektronendichtekarte direkt zeigt. Die nichtresonante impulsive Raman-Anregung stellt sicher, dass der untersuchte Kristall dabei im elektronischen Grundzustand bleibt.

Abbildung 1 zeigt die zeitabhängige Intensität des (111) Bragg-Reflexes von cBN nach einer Raman-Anregung zweiter Ordnung, die Paare von akustischen Zonenrand-Phononen erzeugt [1]. Der experimentell beobachtete Zuwachs an gebeugter Intensität zeigt unmittelbar eine Umverteilung von Valenzelektronen aus den Zwischengitterplätzen der Einheitszelle auf die Atome. Dieses Phänomen lässt sich in den zeitabhängigen Elektronendichtekarten in Abb. 2 direkt verfolgen. Die beobachteten Oszillationen haben ihren Ursprung in einer kohärenten Überlagerung von zwei Phononen mit einem sehr kleinen Frequenzunterschied.

Abbildung 3 zeigt zeitabhängige Elektronendichtekarten von paraelektrischem KDP für zwei unterschiedliche Verzögerungszeiten zwischen Anreg- und Abtastimpuls nach einer kohärenten Anregung der soft mode [2]. Die Schwingungsbewegung der Atomkerne führt zu einer lang anhaltenden Schaukelbewegung der Elektronen zwischen verschiedenen Atomen in der Einheitszelle aufgrund des longitudinalen Charakters der soft mode. Dieses Verhalten steht im krassen Widerspruch zu Vorhersagen der bisherigen Literatur, die bislang von  einem transversalen Charakter dieser Phononen ausging. Die Elektronendichtekarten zeigen sowohl einen Elektronentransfer zwischen Kalium- und Phosphoratomen [Teilbild (b)] wie auch eine ausgeprägte Elektronenumverteilung innerhalb des Phosphat-Ions von den Phosphor zu den Sauerstoff-Atomen [Teilbild (c)].

Der vielleicht interessanteste Aspekt dieser experimentellen Beobachtungen ist die Tatsache, dass in beiden Fällen die Umverteilung von Valenzelektronen auf der Längenskala von interatomaren Abständen erfolgt, d.h., um mehrere Angström (10-10 m), während die Kernauslenkungen der soft mode sich nur im Subpikometerbereich (10-12 m) bewegen. Auf diese Weise wird die elektrostatische Energie des Kristalls während der Phononanregung minimiert. Diese Ergebnisse definieren einen neuen Vergleichsmaßstab für eine adäquate quantenmechanische Beschreibung von soft modes und bereiten den Weg für zukünftige Studien von Funktionsmaterialien, z.B. solche mit ferroelektrischen Eigenschaften.

Phonon-Induced Relocation of Valence Charge in Boron Nitride Observed by Ultrafast X-Ray Diffraction
Shekhar Priyadarshi, Isabel Gonzalez-Vallejo, Christoph Hauf, Klaus Reimann, Michael Woerner, and Thomas Elsaesser
Phys. Rev. Lett. 128, 136402

Max-Born-Institut für Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie im Forschungsverbund Berlin
Nichtlineare Prozesse in kondensierter Materie
Prof. Dr. Klaus Reimann
Tel. 030 6392-1476
E-Mail: Klaus.Reimannmbi-berlin.de

Dr. Michael Wöoerner
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