Interview | IGB | 12-01-2022

„Gute Wissenschaft ist meist Teamarbeit, bei der sich alle mit ihren Stärken einbringen und gegenseitig ergänzen“

Ein Gespräch mit Jonathan Jeschke

Foto: David Ausserhofer

Prof. Dr. Jonathan Jeschke hat am 1. Januar 2022 die Leitung der neuen IGB-Abteilung für Evolutionäre und Integrative Ökologie übernommen. Sein Team ist breit aufgestellt, befasst sich etwa mit ökologischen und evolutionären Folgen des globalen Wandels, mit Artinteraktionen wie Konkurrenz, Parasitismus und Räuber-Beute-Beziehungen und mit der Synthese von Daten und Informationen. Im Gespräch erzählt er, warum Integration sein Leitmotiv ist, welche neuen Methoden und Ansätze er verfolgt und wie er vor allem junge Wissenschaftler*innen fördern möchte.

Herr Jeschke, Sie leiten nun die Abteilung Evolutionäre und Integrative Ökologie am IGB eine völlig neu geschaffene Abteilung. Womit werden Sie sich beschäftigen?

Für mich stehen hinter der Abteilung die vier Schlüsselbegriffe Ökologie, Evolution, Anthropozän und Integration. Dass der Begriff Evolution nun so explizit im Namen einer Abteilung auftaucht, ist neu am IGB. Mir war auch wichtig, den Begriff Integration im Namen zu tragen, denn das ist ebenfalls eine besondere Stärke der fünf Arbeitsgruppen, die sich in dieser neuen Abteilung zusammengefunden haben: Wir untersuchen nicht nur ökologische und evolutionäre Prozesse und deren Interaktionen, sondern sind auch sehr interessiert daran, Brücken zu bauen zu anderen Disziplinen, etwa zu den Sozialwissenschaften.

Welches Ziel verfolgen Sie damit?

Wir möchten wichtige ökologische Fragestellungen des Anthropozäns bzw. des 21. Jahrhunderts bearbeiten und glauben, mithilfe eines integrativen Ansatzes bessere Antworten zu finden. Deshalb kombinieren wir die beiden ohnehin sehr integrativen Disziplinen Ökologie und Evolution mit weiteren Ansätzen, Perspektiven und Forschungsfeldern. Integration heißt für mich zudem, den Dialog mit Akteuren außerhalb der Wissenschaft voranzutreiben.

Welche Methoden nutzen Sie zur Integration?

Ein Beispiel ist unsere Hi Knowledge-Initiative, die wir vor einigen Jahren am IGB gestartet haben. Dabei arbeiten wir mit neuen Methoden wie der Hypothesenhierarchie, welche es erlaubt, große Hypothesen in kleinere, spezifische Hypothesen zu unterteilen. So kann man die Theorie mit der empirischen Forschung verbinden. Darauf aufbauend haben wir Methoden für Hypothesennetzwerke entwickelt, um die wichtigsten Hypothesen und Konzepte eines Forschungsgebietes aufzuzeigen und miteinander zu verknüpfen. Aktuell laufen zwei weitere Projekte, um die Hi Knowledge-Initiative auf die nächste Stufe zu heben: Zusammen mit Fachleuten aus den Bereichen Künstliche Intelligenz, Datenwissenschaft und verwandten Disziplinen versehen wir unser Hypothesennetzwerk mit Algorithmen. Ergänzen werden wir das mit einem Wiki-Ansatz. Das große Ziel ist die Erstellung eines Wissenschaftsatlas, der komplett frei und offen ist. Was mich ebenfalls zunehmend begeistert, sind Applied Games. Wir arbeiten mit Spieleentwicklern an einem Rollenspiel zum Umgang mit invasiven Arten, das mit verschiedenen Zukunftsszenarien verknüpft ist. Wissenschaftlich kann man das nutzen, um Managementempfehlungen abzuleiten. Darüber hinaus kann man es auf diese Weise schaffen, ein komplexes und problematisches Thema auf positive Weise zu kommunizieren: Spieler*innen können aktiv mitgestalten und erfahren somit eine Komplexität, die man in einem Vortrag oder einer Publikation gar nicht vermitteln könnte.

Was leiten Sie daraus für die Zusammenarbeit in Ihrer Abteilung ab? Kommen Sie zum Beispiel künftig spielerisch zu Entscheidungen?

Wir haben in der Abteilung in der Tat viele spielaffine Mitglieder [Jeschke lächelt]. Ein spielerisches Element wäre mir in jedem Fall wichtig, auch wenn wir so wahrscheinlich nicht die meisten Entscheidungen werden treffen können.

Welche Rolle spielt dabei der Führungsstil?

Ich wünsche mir für unsere Abteilung ein Umfeld, das inspirierend ist und Kreativität fördert, in dem wir gemeinsam ziel- und teamorientiert arbeiten können und hohen Respekt gegenüber unseren Kolleg*innen haben. Ich bin kein Freund ausgeprägter Hierarchien. Meinen eigenen Führungsstil würde ich als unterstützend und partizipativ beschreiben. Das liegt auch daran, dass ich in meinem Berufsleben viel davon profitiert habe, dass mich andere unterstützt und mir viel Freiheiten gegeben haben. Dafür bin ich auch Rita Adrian dankbar, in deren Abteilung ich die letzten 7 Jahre arbeiten durfte. Das möchte ich nun weitergeben.

Hat Sie das auch motiviert, diese Position zu übernehmen?

Durchaus. Ich bin in meiner Laufbahn an einem Punkt angekommen, an dem ich viel Erfahrung gesammelt habe – an verschiedenen Institutionen in verschiedenen Ländern – und für mich gemerkt habe, was für mich und für andere gut funktioniert. Ich habe auch einige Artikel publiziert, die ganz gut illustrieren, was ich mir vorstelle: nämlich, dass man wirklich zusammenarbeitet. Natürlich gibt es in der akademischen Forschung immer Konkurrenz, aber Kooperation sollte im Vordergrund stehen. Wir befinden uns dabei am IGB in einer sehr guten Lage: Wir haben eine gute finanzielle Ausstattung, die meisten Gruppenleiter*innen haben feste Stellen und die Arbeitsatmosphäre ist toll. Auch im Wissenschaftssystem insgesamt verändert sich etwas. Es geht nicht mehr immer nur um Metriken wie die Anzahl der Publikationen oder die Höhe der Drittmittel, sondern es wird zunehmend Wert auf Kooperation und auf offene Wissenschaft gelegt. Und genau das versuche ich auch zu fördern.

Kritiker würden Ihnen vermutlich entgegnen, dass vor allem junge Wissenschaftler*innen auf die etablierten Metriken angewiesen sind…

Das muss man natürlich im Blick behalten, denn junge Kolleg*innen müssen sich in der Regel irgendwann woanders bewerben und dürfen dort nicht auf völlig andere Kriterien stoßen. Man kann das also nicht auf die Spitze treiben. Stattdessen sollte man  den einzelnen Menschen im Blick behalten. Jede und jeder hat bestimmte Stärken und Schwächen. Es bringt nichts, zu erwarten, dass einzelne Personen in allem gut sind. Gute Wissenschaft ist meist Teamarbeit, bei der sich alle mit ihren Stärken einbringen und gegenseitig ergänzen. Dabei denke ich natürlich auch an Nicht-Wissenschaftler*innen, die zusammen mit den Wissenschaftler*innen ein großes Team bilden. Teamarbeit können wir z.B. fördern, indem wir uns bei Neueinstellungen genau überlegen, welche Kompetenzen und Ergänzungen wir am IGB brauchen – und damit meine ich nicht nur die disziplinäre Expertise, sondern ausdrücklich auch andere persönliche Eigenschaften.

Würden Sie sich dafür aussprechen, komplett auf klassische Kennziffern zu verzichten?

Nein, denn sie haben eine gewisse Berechtigung. Problematisch wird es aber, wenn solche Kennziffern das akademische System so verändern, dass sich die Personen nicht mehr daran orientieren, gute Wissenschaft zu machen, sondern ihre Metriken zu maximieren. Dann funktioniert das Ganze nicht mehr, denn die Metriken können die vielen Aspekte guter Wissenschaft nicht vollständig erfassen. Wichtig ist deshalb, sich immer mit den Personen zu beschäftigen: Was haben sie gemacht, wie passen sie zu uns, was haben sie für Qualitäten? An der Charité gibt es zum Beispiel das QUEST Center, das neue Empfehlungen für Einstellungen und Entfristungen entwickelt.

Eine Inspiration für Ihre eigene Abteilung?

Ich würde solche neuen Ansätze in der neuen Position gern anregen und ausprobieren.  Es ist allerdings immer schwerer, Dinge in der Praxis umzusetzen als sie sich in der Theorie auszudenken. Diese Herausforderung suche ich auch in meiner neuen Rolle.

Was könnte sich dadurch für Nachwuchswissenschaftler*innen verbessern?

Nachwuchswissenschaftler*innen, die in der akademischen Landschaft bleiben wollen, sollten bestmöglich gefördert werden. Das gleiche gilt aber auch für alle, die sich außerhalb der akademischen Forschung bewerben möchten. Es gibt für Ökolog*innen die unterschiedlichsten Karrierepfade, denen wir gerecht werden sollten. Es ist kein Makel, wenn jemand die Wissenschaft verlässt. Vielleicht ist es sogar gut, wenn mehr Leute mit akademischem Hintergrund außerhalb der Wissenschaft Fuß fassen. Dann können wir den Dialog zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Akteuren stärken – mit Ansprechpartner*innen, die beide Seiten kennen.

Transfer über Köpfe nennt man das aktuell in forschungspolitischen Diskussionen…

… das ist wichtig, denn ich finde es schade, wenn eine nicht-wissenschaftliche Laufbahn als Scheitern empfunden wird.

Welche Rolle spielt Diversität für Sie?

Dieser Aspekt hat mich mein ganzes Leben begleitet. Es ist ein Gebot der Fairness, unterrepräsentierte Personengruppen zu fördern. Als jemand mit Behindertenstatus bin ich auch ganz persönlich Teil einer unterrepräsentierten Gruppe. Ich finde es wichtig, die verschiedenen Facetten von Diversität zu berücksichtigen. Dazu gehört auch die Diversität der Stärken und Schwächen einzelner Personen. Wie bereits angesprochen ist es mir wichtig, dass sich in Teams die persönlichen Stärken der Mitglieder gut ergänzen. Es kann sehr inspirierend sein, wenn diverse Perspektiven in einem Team zusammentreffen.

Ihre Abteilung arbeitet besonders eng mit der Freien Universität Berlin (FUB) zusammen. Alle Gruppenleiter*innen lehren dort, vier haben eine Professur, Sie selbst auch. Was macht diese Zusammenarbeit wissenschaftlich so besonders?

Die starke Bindung zur Freien Universität ergibt sich neben der dortigen Lehre und den Professuren auch daraus, dass einige Abteilungsmitglieder, insbesondere aus Michael Monaghans und meiner Arbeitsgruppe, auch physisch auf dem FU-Campus in Dahlem sitzen. Wenn das neue gemeinsame Wissenschaftsgebäude einzugsbereit ist, wird sich diese Brücke noch verstärken. Netzwerke und Kooperationen mit Institutionen in und außerhalb von Berlin bergen generell großes Potenzial, denn Integration lebt davon, dass man verschiedene Perspektiven miteinander verknüpft. Im Rahmen des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Biodiversitätsforschung (BBIB) arbeiten wir neben der FUB beispielsweise mit dem IZW, dem MfN, dem ZALF, der Uni Potsdam und den anderen Berliner Universitäten zusammen. Ein weiteres Beispiel ist das Genomzentrum BeGenDiv, dessen Sprecher Michael Monaghan aus unserer Abteilung ist und das schon lange als erfolgreiche Kooperation existiert. Auch international sind wir in einige Netzwerke eingebunden: Die Alliance for Freshwater Life (AFL) ist eine Initiative, die wir gemeinsam mit Sonja Jähnig, einer ebenfalls neuen Abteilungsleiterin am IGB, und anderen Forscher*innen aufgebaut haben. Auch in Future Earth sind wir engagiert und in der Weltnaturschutzunion IUCN, hier zum Beispiel in der Invasive Species Specialist Group.

Apropos Zusammenarbeit: Wo sehen Sie neben der Alliance for Freshwater Life noch Verbindendes mit anderen Abteilungen am IGB?

Mit allen Abteilungen gibt es spannende Anknüpfungspunkte: Mit Abteilung 2, aus der wir hervorgegangen sind, und mit Abteilung 3 verbindet uns insbesondere das Thema Biodiversität, mit Abteilung 1 ist es die Arbeit an urbanen Systemen. Stärken möchten wir auch die Verbindung zu Abteilung 4, in der evolutionsökologische Fragestellungen wie in unserer Abteilung eine große Rolle spielen. Wir freuen uns deshalb sehr auf die Zusammenarbeit, übrigens mit allen Kolleg*innen am IGB und darüber hinaus!

Herzlichen Glückwunsch zur neuen Position, Jonathan! Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit, auf neue Verbindungen, Ansätze und Methoden, die das IGB zu einem (noch) innovativeren, kreativeren und diverseren Ort machen!

Jonathan Jeschke promovierte 2002 an der LMU München im Fachbereich Biologie. Nach Stationen am Cary Institute in Millbrook im Bundesstaat New York/USA und der Universität von Helsinki/Finnland kehrte er 2007 nach München zurück. Dort arbeitete er zunächst wieder an der LMU und wechselte 2011 an die TU München. Seit 2014 ist er Professor für Ecological Novelty an der Freien Universität Berlin und am IGB, wo er von 2016 bis 2021 zudem Sprecher des Programmbereichs für Aquatische Biodiversität war.

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei
Abteilung Evolutionäre und Integrative Ökologie
Prof. Dr. Jonathan Jeschke
Tel. 030 838-71046
E-Mail jonathan.jeschkeigb-berlin.de