Wie die umfangreiche Studie zeigt, hat sich die biologische Vielfalt in Flusssystemen in 22 europäischen Ländern über einen Zeitraum von 1968 bis 2010 aufgrund der verbesserten Wasserqualität zunächst erholt. Seit 2010 stagniert die Entwicklung jedoch; viele Flusssysteme konnten sich nicht vollständig regenerieren. Die Forschenden empfehlen daher dringend zusätzliche Maßnahmen, um die Erholung der biologischen Vielfalt in Binnengewässern zu fördern. Dies sei auch angesichts aktueller und zukünftig steigender Belastungen – wie Verschmutzung, Versiegelung, Dürre, Erwärmung und die Ausbreitung invasiver Arten – dringend nötig. Die Studie wurde im Fachjournal Nature veröffentlicht.
„Unsere Daten zeigen, dass sich Flüsse durchaus erholen können, wenn wir als Gesellschaft die richtigen Maßnahmen umsetzen“, sagt Prof. Dr. Sonja Jähnig, Abteilungsleiterin am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und Mitautorin der Studie. „Allerdings haben wir seit 2010 beim Zustand der Artenvielfalt kaum noch Fortschritte erzielt, sodass es heute zusätzlicher Anstrengungen bedarf.“
Nach Tiefstand zunächst schnelle und deutliche Erholung bis 2010
Eine bessere Abwasserbehandlung in effektiveren Kläranlagen hatte in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wieder zu einer höheren Wasserqualität in den europäischen Gewässern geführt. Davon konnte auch die Artenvielfalt profitieren: Wie die aktuelle Studie zeigt, haben sich zwischen 1968 und 2010 sowohl die Artenvielfalt als auch die Häufigkeit einzelner Arten deutlich verbessert – jedoch ohne, dass der ursprüngliche Artenreichtum je wieder erreicht worden ist.
Forschende hatten dazu umfangreiche Zeitreihen wirbelloser Süßwassergemeinschaften ausgewertet, die zwischen 1968 und 2020 gesammelt wurden. „Wirbellose wie Eintags- oder Köcherfliegen sind seit Langem ein Eckpfeiler zur Überwachung der Wasserqualität, wir konnten deshalb auf eine sehr gute Datenbasis zurückgreifen“, erläutert Erstautor der Studie Prof. Dr. Peter Haase vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Diese Daten zeigen auch, dass nach 2010 eine stagnierende Entwicklung eingesetzt hat, die auf eine Erschöpfung der bisherigen Maßnahmen hindeutet.“
Eine Frage der Lage: Urbane Gebiete, Ackerland und Dämme als Risikofaktoren
Besonders wenig Verbesserungen wurden in Süßwassergemeinschaften flussabwärts von Staudämmen und in Einzugsgebieten mit einem hohen Anteil an städtischen Flächen oder Ackerland verzeichnet. Um herauszufinden, welche Faktoren dort die Erholung der Biodiversität hemmen, kombinierten die Forschenden ein hochaufgelöstes Flussnetz mit Umweltdaten, die die jeweiligen Bedingungen zum Zeitpunkt der Beprobung widerspiegelten.
„Dass sich die Biodiversität in manchen Fließgewässern kaum erholt, lässt sich flussabwärts urbaner Gebiete vor allem darauf zurückführen, dass Mikroverunreinigungen und Nährstoffeinträge in die Gewässer gelangen und Städte zudem häufig Einfallstor für gebietsfremde invasive Arten sind“, sagt IGB-Forscher und Mitautor Dr. Sami Domisch und erklärt weiter: „Von Ackerflächen werden hingegen eher Feinsedimente, Pestizide und Düngemittel in die Gewässer gespült. Staudämme wiederum zerschneiden Gewässer und verändern das Fluss- und Temperaturregime.“
Standorte, die schon jetzt besonders stark von der Klimaerwärmung betroffen sind, zeigten ebenfalls geringere Zuwächse ihrer Artenvielfalt. Dieser Trend wird sich wahrscheinlich verstärken, wenn die Temperaturen weiter steigen und klimatische Extreme wie Dürren und Hitzewellen im Sommer zunehmen, befürchten die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Invasive, gebietsfremde Arten als zusätzliche Gefahr
Besonders auffällig war die weite Verbreitung invasiver Arten: „Basierend auf einem Teildatensatz – 1299 von 1816 – konnten wir zeigen, dass rund 70 Prozent der Flussabschnitte nicht-heimische Arten aufweisen mit einem durchschnittlichen Anteil von 4,9 Prozent der Arten und 8,9 Prozent der Individuen“, berichtet Autorin Dr. Ellen A.R. Welti, Forschungsökologin in den USA am Smithsonian's Conservation Ecology Center.
Gebietsfremde Arten finden sich in urbanen Räumen und anderen stark belasteten Gebieten besser zurecht, vermuten die Forschenden. Die könnte künftig zu einem größeren Verlust seltener und empfindlicher einheimischer Arten führen.
Das Erreichte ist nicht genug: zusätzliche Maßnahmen erforderlich
Um die Erholung der Biodiversität anzukurbeln und einen Rückgang zu vermeiden, reichen die bisher ergriffenen Maßnahmen und bereitgestellten Mittel nicht aus. Angesichts der zu erwartenden Folgen des Klimawandels wie höhere Temperaturen und geringere Wasserführung in den Flüssen sollten Abwassernetze und Kläranlagen weiter ausgebaut, der Überlauf von Kanalisationen bei Starkregenereignissen vermieden und Einträge von Mikroverunreinigungen, Nährstoffen, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln, Salzen sowie anderen Schadstoffen weiter reduziert werden. Zusätzlich sollte künftig verstärkt auf Revitalisierung der Gewässer gesetzt werden.
Die Forschenden kritisieren, dass die Umweltgesetzgebung in den vergangenen Jahren nur unzureichend auf neu auftretende Belastungen reagiert hat. Sie raten dringend, Standorte stärker in den Fokus zu rücken, die einem besonders großen Risiko des Rückgangs der biologischen Vielfalt ausgesetzt sind, also flussabwärts von städtischen Gebieten, Anbauflächen und Dämmen. Auch Systeme, die bisher am wenigsten beeinträchtigt wurden und somit wertvolle Rückzugsgebiete für die biologische Vielfalt sind, sollten erhalten und besser geschützt werden.
Der Entwurf des EU-Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur (Nature Restoration Law), über dessen finale Form derzeit mit dem Europäischen Rat verhandelt wird, ist demnach ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung:. „Es reicht längst nicht mehr aus, die Wasserqualität zu verbessern, wir müssen großflächig Ökosysteme renaturieren und die Konnektivität der europäischen Fließgewässer entscheidend verbessern“, fasst Sonja Jähnig zusammen. Das verspräche nicht nur einen Schub für die aquatische Artenvielfalt; sondern würde zudem u.a. den natürlichen Hochwasserschutz, den Wasserrückhalt in der Landschaft und die Selbstreinigungskraft der Gewässer unterstützen.