Pressemitteilung | IZW | 12-05-2020

Mehr als die Summe ihrer Gene

Neue Perspektiven für das Bestandsmanagement von Zootieren

Weiblicher Gorilla mit einem 8-monatigen Nachwuchs im Zoo | Foto: Brocken Inaglory, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7552258

Eine erfolgreiche Fortpflanzung in Gefangenschaft ist für das Überleben vieler Wildtierarten von entscheidender Bedeutung, doch der Fortpflanzungserfolg ist oft nicht vergleichbar mit dem in der freien Wildbahn. Gegenwärtig legen viele Strategien zur Erhaltungszucht in Zoos den Schwerpunkt auf die Maximierung der genetischen Vielfalt der Zoobestände. Um den Zuchterfolg in Zoos und die Erhaltung der Vielfalt von Merkmalen und Verhaltensweisen bedrohter Arten zu verbessern, sei jedoch eine neue, breitere Perspektive erforderlich, die auch das Verhalten, die Lebensgeschichte, die Haltung und Umweltaspekte einschließt. So argumentieren Wissenschaftler*innen in einem kürzlich in der Fachzeitschrift „Journal of Zoo and Aquarium Research“ veröffentlichten Aufsatz. Sie vergleichen verschiedene Ansätze zur Erhaltungszucht und kommen zu dem Schluss, dass eine einseitige Priorisierung genetischer Aspekte unter Ausschluss aller anderen Perspektiven wie dem Tierverhalten und der sozialen Organisation negative Auswirkungen haben kann. So treten beispielsweise Konflikte in kleinen Gruppen nicht verwandter erwachsener Tiere häufiger auf als in größeren Gruppen mit Verwandten. In solchen Gruppen besteht auch in weit höherem Maße die Möglichkeit, ein differenziertes Sozialisations- und Lernrepertoire zu entwickeln.

Viele Vogel- und Säugetierarten vermehren sich in der freien Natur besser als in Gefangenschaft. Wenn wildlebende Bestände bedroht sind, ist es für den Artenschutz von größter Bedeutung, dass die Populationen in Gefangenschaft gesund und stabil sind und die Erhaltungszucht floriert. In einem neuen Fachzeitschriften-Aufsatz werten die Wissenschaftler*innen Werner Kaumanns (LTM-Research and Conservation), Nilofer Begum (Freie Universität Berlin) und Heribert Hofer (Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung) Jahrzehnte wissenschaftlicher Literatur über die Reproduktion von Wildtieren in Gefangenschaft aus und vergleichen zwei bekannte Konzepte der Bestandsbetrachtung. Das „kleine Populationen“-Konzept konzentriert sich auf das genetische Reservoir der Art und versucht, die genetische Vielfalt des Bestandes in menschlicher Obhut zu maximieren, beispielsweise durch häufigen Partnerwechsel oder durch die Vermeidung der Zusammenstellung von Gruppen eng verwandter Individuen. Im „Populations-Rückgang“-Konzept hingegen zielen die Maßnahmen auf die Ursachen des Bestandsrückgangs ab und konzentrieren sich somit auf die Prozesse und Voraussetzungen für eine erfolgreiche Fortpflanzung. „Wir zeigen, dass mit dem Populations-Rückgangs-Konzept bessere Haltungsoptionen für die Zucht in menschlicher Obhut entwickelt werden können, ohne notwendigerweise in Widerspruch zum Ziel der Aufrechterhaltung von genetischer Vielfalt zu geraten“, sagt Hauptautor Kaumanns.

Die Autoren erläutern, dass – neben dem Überleben – die Fortpflanzung von eminenter Wichtigkeit in allen Arten ist. Der Erfolg der Reproduktion beeinflusst den Beitrag eines Tieres für künftige Generationen erheblich. „Dies bedeutet, dass viele Schlüsselmerkmale und evolutionäre Anpassungen mit der Fortpflanzung verbunden sind“, erklärt Seniorautor Hofer. „Tiere sind in hohem Maße darauf spezialisiert, sich fortzupflanzen. Gruppengrößen, Sozialisations- und Lernrepertoires, Verhaltensweisen, räumliche Anforderungen sowie viele andere Merkmale und Kontexte tragen gewöhnlich zum Reproduktionserfolg bei.“ Ob sich beispielsweise ein Affenweibchen positiv auf die Reproduktion und Stabilität des Bestandes in einem Zoo auswirkt, liege nicht nur an ihrem Erbgut, sondern mindestens ebenso in ihrem Verhalten und ihrer Erfahrung und Kompetenz bei der Aufzucht des Nachwuchses. „Es ist notwendig, dass in Zoos geeignete Bedingungen vorhanden sind, die sicherstellen, dass die Weibchen diese Fähigkeiten erwerben und weitergeben können“, sagt Hofer. Dies könne beispielsweise durch die Anwesenheit von Tanten oder Müttern in der Gruppe gewährleistet werden, in denen Weibchen aufwachsen.  

Dieser Ansatz ist nicht auf Affen beschränkt: Es wäre auch bei Elefanten und anderen Arten mit komplexen Sozialstrukturen, wie der Tüpfelhyäne, von Vorteil, Müttern den Rahmen zu bieten, in dem sie die nötige Erfahrung sammeln können. „Es ist daher empfehlenswert, dass solche Schlüsselmerkmale in Plänen für die Erhaltungszucht und in Haltungsrichtlinien eine hervorgehobene Rolle spielen", sagt Nilofer Begum, Doktorandin an der Freien Universität Berlin. Wenn die Zuchtbedingungen in Zoos oder Wildtierfarmen die natürlichen Zuchtbedingungen nicht respektierten, können sich Merkmale nachteilig auswirken und die Vielfalt der Ausprägungen von Merkmalen wie Verhaltensweisen bedrohen. Dies bedeute in der Praxis, dass sich Zoos mitunter auf weniger Arten konzentrieren und für die vorhandenen ein flexibleres Haltungssystem entwickeln sollten, welches die wesentlichen Merkmale der Nische oder des Lebensraums einer Art besser berücksichtigt. Nicht zuletzt sollten sie sicherstellen, dass sorgfältig zusammengestellte soziale Gruppen das generationenübergreifende Lernen und die Lösung von sozialen Problemen und Konflikten fördern.

Kaumanns W, Begum N, Hofer H (2020): “Animals are designed for breeding”: captive population management needs a new perspective. Journal of Zoo and Aquarium Research 8(2).
DOI: 10.19227/jzar.v8i2.477

Leibniz-Institut für Zoo- and Wildtierforschung (Leibniz-IZW)

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