Elektrische Signale bilden die Grundlage vieler Lebensvorgänge – sie ermöglichen, dass das Herz schlägt und dass wir denken, sehen, hören, schmecken, riechen oder tasten können. Überschießende elektrische Aktivität von Nervenzellen oder Muskelzellen kann aber auch schädlich sein und zu Epilepsie, Herzarrhythmien, Bluthochdruck, Migräne und anderen Schmerzzuständen führen.
Elektrische Signale entstehen durch das gezielte Öffnen und Schließen von Ionenkanälen. Das sind Poren in der Zellmembran, durch die elektrisch geladene Teilchen (wie z.B. Natriumionen und Kaliumionen) transportiert werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass viele Medikamente auf Ionenkanäle wirken und dass insbesondere Medikamente, die überschießende elektrische Aktivität reduzieren, von großem pharmakologischem Interesse sind. Dabei liegt der Forschungsschwerpunkt auf einer besonderen Klasse der Ionenkanäle, den sogenannten Kaliumkanälen. Im menschlichen Körper gibt es etwa 80 verschiedene Varianten von Kaliumkanälen und viele von ihnen haben die Aufgabe, überschießende elektrische Aktivität in Nervenzellen und Muskelzellen zu unterdrücken. Ohne diese elektrische Beruhigung würden Zellen durch Übererregung absterben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Physiologischen Institut der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und am Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) haben jetzt einen neuartigen Mechanismus entdeckt sowie pharmakologisch beeinflusst und konnten schließlich – wie mit einem Generalschlüssel – bestimmte Ionenkanäle gleichzeitig öffnen und dadurch überschießende Aktivität in Zellen unterdrücken.
Dr. Han Sun (FMP) bestimmte anhand von Molekulardynamik-Simulationen in Kombination mit röntgenkristallographischen und funktionellen Mutagenese-Daten, wo sich die negativ geladenen Aktivatoren in den Kanälen befinden. „Interessanterweise befindet sich die negativ geladene Gruppe der Aktivatoren direkt unter dem Selektivitätsfilter, wo sie mit Kaliumionen unter dem Filter interagiert“, sagt Dr. Sun. Mit Hilfe von aufwendigen Computersimulationen, die sie zum Teil beim Norddeutschen Verbund für Hoch- und Höchstleistungsrechnen (HLRN) durchführte, konnte der Ionenfluss durch den Selektivitätsfilter simuliert werden. Aus dieser Analyse konnten die Forscher den Mechanismus entschlüsseln, mit dem negativ geladene Aktivatoren die Kanäle öffnen und den Ionenfluss beschleunigen. „Dieser Mechanismus ist überraschenderweise für eine Reihe verschiedener wichtiger neuroprotektiver Kanäle universell gültig und könnte einen Ausgangspunkt für rationale Medikamentenentwicklung darstellen“, ergänzt Dr. Sun.
Die Kieler Arbeitsgruppe „Ionenkanäle“ um Professor Thomas Baukrowitz untersuchte die molekulare Biophysik von Ionenkanälen, also jene Prozesse, die zum Öffnen und Schließen von Ionenkanälen in der Zelle führen. „Kaliumkanäle sind für uns Grundlagenforscher deshalb so interessant, weil sie vielseitig regulierbar sind: Sie lassen sich durch Spannung, Temperatur oder mechanischen Stress öffnen – aber auch durch den Einsatz bestimmter Substanzen“, erklärt Prof. Baukrowitz. Solche Substanzen befinden sich in einem Teststadium und sind noch nicht für Versuchsreihen oder den Pharmamarkt zugelassen. In ihrer Studie mit internationaler Beteiligung entdeckten die Kieler Forschenden, dass eine Reihe schon lange bekannter Substanzen (Versuchspharmaka) nicht wie ursprünglich gedacht spezifisch auf eine Sorte von Kaliumkanälen wirken, sondern gleichzeitig viele unterschiedliche Kaliumkanäle öffnen. Diese sogenannte Polypharmakologie (Vielfachwechselwirkung) war bis dahin für Kaliumkanäle unbekannt. Teilweise wurden die in dieser Arbeit verwendeten Substanzen am FMP in der Arbeitsgruppe von Dr. Marc Nazaré synthetisiert.
„Ähnlich einem Generalschlüssel öffnen die Substanzen alle Kaliumkanäle mit diesem Klappenmechanismus gleichzeitig“, erzählt Dr. Schewe aus Kiel. Prof. Baukrowitz ergänzt: „Die Versuchssubstanzen zweckentfremdeten gewissermaßen die natürliche Funktionsweise der Kanalpore, um diese zu öffnen. Dass dieser Klappenmechanismus in verschiedenen Sorten von Kaliumkanälen auf sehr ähnliche Weise funktioniert, war so nicht bekannt und liefert ein besseres Verständnis der Funktionsweise von Kaliumkanälen.“
Das Wissen darum, wie die Testpharmaka in Kaliumkanälen wirken, könnte beispielsweise Pharmaunternehmen helfen, effizientere neue Medikamente zu entwickeln, insbesondere solche, die zur Behandlung von Krankheiten wie Epilepsie, Herzrhythmusstörungen (Arrhythmien), Gefäßverengungen oder verschiedenen Schmerzzuständen zum Einsatz kommen.