Artikel | WIAS | 13-02-2023

Wenn "nicht glatt" ungleich rau ist

WIAS-Mathematikerin Prof. Marita Thomas schreckt keine noch so komplizierte Gleichung - wenn sie praktisch anwendbar ist.

Prof. Dr. Marita Thomas | Foto: Verena Brandt

Es gibt unendlich vieles, was sich mit einer mathematischen Gleichung beschreiben lässt. Etwa, warum ein Apfel vom Baum immer nach unten fällt. Klar, wegen der Schwerkraft – Kraft gleich Masse mal Erdbeschleunigung. Oder mit welcher Geschwindigkeit ein Auto fahren muss, um in einer bestimmten Zeit von A nach B zu kommen. Es hängt von der Entfernung ab. Das ist simple Mathematik. Da sieht man genau hin, erkennt, welche Variablen einzubeziehen sind, in welchem logischen Zusammenhang sie stehen, und fertig ist die Gleichung.

Doch wie so oft im Leben ist manches echt kompliziert. Etwa, wenn es darum geht, einen physikalischen Vorgang zu beschreiben, bei denen sich eine Größe in Abhängigkeit von gleich mehreren Variablen verändert. Während manche bereits an einfachen Formen solch höherer Mathematik verzweifeln, fängt für Marita Thomas, Leiterin der Arbeitsgruppe „Volumen-Grenzschicht-Prozesse“ am Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik (WIAS), der Spaß erst an, wenn es um nicht-glatte partielle Differentialgleichungen geht. „Das sind Probleme, für die man keine Ableitungen im klassischen Sinne mehr ausrechnen kann, stattdessen führt dies zu mengenwertige Subdifferentialen“, sagt die 40-jährige Stuttgarterin vergnügt.

Höhere Mathematik für reale irdische Probleme

Sie modelliert mathematisch komplexe Prozesse für Anwendungen in den Ingenieur- und Geowissenschaften. Um zum Beispiel vorhersagen zu können, wie sich Risse in einem Baumaterial ausbreiten können. „Ingenieure machen im Labor die Bruchexperimente. Wir leiten Gleichungen her, die das Phänomen beschreiben, und untersuchen diese auf ihre mathematischen Eigenschaften. Dies unterstützt ihre Implementierung, um Simulationen zu machen, die den Rissvorgang aus dem Experiment möglichst gut nachbilden können.“ Lange habe man Rissmodelle untersucht, die nur sehr langsame Verformungen beschreiben können. Doch wenn sich irgendwo ein Riss auftut, induziere er selbst eine Bewegung, die sich wie eine Welle im Material ausbreiten und mit dem Riss wechselwirken kann. „Das ist nichts Glattes mehr, denn wenn das Material aufreißt, verändert sich seine Geometrie“, erklärt die Forscherin.

Zur Mathematik kam sie über den Umweg der Chemie, ein Fach, was sie in der Schule begeistert hat. „Ich merkte aber bald, dass dort Mathe eine wichtige Rolle spielt, und dass es hilfreich sein kann, wenn man sich damit gut auskennt.“ Sie studiert an der Universität Stuttgart Mathematik mit Nebenfach Chemie. Wie sich herausstellt, genau die richtige Kombination, um die anfangs sehr trockene und teils noch unverständliche Mathematik durchzustehen. Doch irgendwann überwiegt die Faszination für Gleichungen und deren mathematische Untersuchung.

Nach der Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin geht sie als Postdoktorandin an das WIAS. „Das Institut bot mir als junge Forscherin tolle Entwicklungsmöglichkeiten, weil ich hier unter vielen exzellenten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern arbeiten konnte“, sagt sie. „Ich hatte immer gute Gesprächspartner, Vorbilder und ein schönes Umfeld zum Arbeiten. Deshalb war für mich total erstrebenswert, länger zu bleiben.“ Über den „Berliner Tellerrand“ blickte sie trotzdem hinaus, denn wegen ihrer Forschungskooperationen war sie in ganz Europa unterwegs. Dafür wird ihr nun deutlich weniger Zeit bleiben, denn seit August 2022 ist Marita Thomas W2-Professorin für „Angewandte Analysis“ an der Freien Universität Berlin. Ihre befristete Arbeitsgruppe am WIAS läuft 2023 aus.

Wenn Gestein unter Druck zu schwitzen beginnt ...

Neben Forschung und Lehre stehen neue Aufgaben an: Sie ist Sprecherin in Phase 3 des Sonderforschungsbereiches SFB 1114 „Skalenkaskaden in komplexen Systemen“. Gemeinsam arbeiten Mathematiker*innen, Physiker*innen, Meteorolog*innen, Geowissenschaftler*innen und Chemiker*innen des SFBs daran, sogenannte Systeme mit Skalenkaskaden, also Multiskalensysteme mit sehr vielen Skalen, in verschiedenen Anwendungen mathematisch zu beschreiben. So geht es in einem der Projekte um Dehydrationsprozesse im Gestein in Subduktionszonen.

„Wenn sich Kontinentalplatten verschieben, werden Teile des oberen Erdmantels subduziert – also nach unten gedrückt. In solchen Zonen wird es immer heißer und bestimmte chemische Reaktionen können nun ablaufen. Im Gestein chemisch gebundenes Wasser kann freigesetzt werden, sich sammeln, Druck aufbauen und zu Rissen im Gestein führen und irgendwann an die Erdoberfläche gelangen“, erzählt sie. Während Geophysiker*innen für das Projekt Gesteinsproben aus subduzierten und nicht-subduzierten Regionen Europas analysieren, versucht Marita Thomas’ Team, dies alles anhand von Differentialgleichungssystemen zu modellieren und diese mathematisch zu untersuchen.

Es gilt, die verschiedenen Teilprozesse thermodynamisch konsistent in ein Modell zu integrieren – obwohl sich die Skalen stark unterscheiden. „Die chemische Reaktion der Dehydration findet auf molekularer Ebene statt. Feine Wassertröpfchen fließen dann vergleichsweise langsam und über deutlich größere Strecken zusammen. Kein Vergleich jedoch zur Länge der Pfade, die sie sich durch das Gestein nach oben suchen müssen.“ Während die Dehydrationsreaktion extrem schnell verläuft, kommt die Subduktion einer Erdplatte nur wenige Zentimeter pro Jahr voran. Aber wie lange dauert es, bis das freigesetzte Wasser an die Oberfläche kommt? Entsteht dabei ein Riss im Gestein, kann er sich extrem schnell ausbreiten und zu einem Erdbeben führen – was dann wiederum auch ein sehr schneller Prozess ist.

Mathematisch gesprochen ist das ein Multiskalenproblem mit nichtglatten Komponenten. Marita Thomas würde es wohl einfach als Riesenspaß bezeichnen.

Text: Dr. Catarina Pietschmann