Interview | FVB, PDI | 26-08-2022

„Wir wollen das ganze Haus erhellen“

Prof. Roman Engel-Herbert ist seit Juli 2021 Direktor des Paul-Drude-Instituts. Im Interview spricht er über seine Pläne.

Prof. Dr. Roman Engel-Herbert | Foto: Ralf Günther

Prof. Roman Engel-Herbert studierte Physik in Jena, promovierte am Paul-Drude-Institut (PDI) und arbeitete im Anschluss als Postdoc in Kanada und in den USA. Zuletzt forschte er an der Pennsylvania State University, dort hatte er seit 2010 eine Professur am Department of Materials Science and Engineering inne. Als Direktor des PDI und Professor für Experimentalphysik / Materialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin kehrte er im Juli 2021 nach Deutschland zurück. Seine Forschung fokussiert sich auf die Synthese neuer Materialien mittels Molekularstrahlepitaxie. Er folgt als PDI-Direktor auf Prof. Henning Riechert, der bis zu seinem Ruhestand Ende 2019 das Institut leitete.

Herr Engel-Herbert, wie war Ihr Start als neuer PDI-Direktor?

Es war ein gelungener Start, wenn auch etwas überstürzt. Ich wollte in den USA alles geordnet zum Jahresende 2021 abschließen und anschließend am PDI beginnen. Aufgrund der langen Berufungsverhandlungen, die in Deutschland leider weit verbreitet sind, wären noch weitere Verzögerungen einfach nicht vertretbar gewesen. Besonders hilfreich war in der Pendelzeit die Akzeptanz, sich auf virtuelle Meetings einzulassen. Wir haben auch neue Formate am PDI umgesetzt. So haben wir mit dem Online-Tool Gathertown virtuelle Räume für das PDI geschaffen, in denen wir unsere Events veranstaltet haben – wie das Treffen mit dem Beirat und auch das Doktorandenseminar. Wir haben ein virtuelles Kolloquium gestartet, welches per Zoom durchgeführt wird und das nun erlaubt, viel einfacher am wissenschaftlichen Diskurs des PDI teilzunehmen. Das hat uns sehr geholfen. Manches sieht erst einmal unüberbrückbar aus – und dann probiert man etwas Neues aus und stellt fest: Es geht!

Welche Strategie verfolgen Sie für das PDI?

Wir versuchen, uns am PDI bezüglich neuer Materialien aufzustellen, ohne unsere Kerntugenden zu vernachlässigen. Wir haben über die letzten 30 Jahre den Fokus auf Halbleitermaterialien gelegt und diese klassischen Materialsysteme bis nahe an die Perfektion getrieben – das war schon fast etwas langweilig. Vor ungefähr zehn Jahren gab es einen Paradigmenwechsel hin zu „More-than-Moore“, d.h. die funktionale Diversifizierung über die herkömmliche Halbleitereigenschaft hinaus. Damit ist eine Flut von neuen Materialsystemen über uns hereingebrochen. Diese sind alle vielversprechend – sie haben aber bisher bei weitem nicht die Materialperfektion erreicht, die benötigt wird, um sie in den jeweiligen Anwendungen nutzbar zu machen. Es ist unsere Aufgabe, uns als PDI zu positionieren und unsere Stärken auszuspielen: das Wachstum dünner Schichten mittels Molekularstrahlepitaxie, die atomare Kontrolle komplexer Nanostrukturen, die Entwicklung neuer Syntheseansätze, um die Arbeit mit neuen Materialien, die zusätzliche Funktionalitäten haben, zu ermöglichen, und auch diese miteinander zu integrieren. Dabei gibt es neue Physik zu entdecken und neue Technologien zu entwickeln. Wir müssen uns breiter aufstellen und sollten mutig voranschreiten, auch weil noch nicht klar ist, welches das „richtige“ Material ist. Wir machen Experimente am PDI, das Motto ist: einfach mal ausprobieren, denn Versuch macht klug.

Wir wollen in fünf Materialklassen richtig gut bleiben und werden: Das sind die klassischen Halbleiter der Gruppe der Arsenide und Nitride, also die „Etablierten“; wir wollen die Oxide stärken, die wir im Rahmen von GraFOx als binäre Oxide schon sehr erfolgreich betreiben, und uns zusätzlich mit ternären Oxiden mit Perovskit-Struktur beschäftigen. Wir wollen die Materialklasse der Chalcogenide und van der Waals-Materialien sowie der Heuslerschen Legierungen erforschen – wobei letztere schon eine lange Tradition am PDI im Rahmen der Spintronik hat und unter denen eine große Anzahl von Kandidaten mit topologischen geschützten, leitfähigen Oberflächenzuständen vermutet werden.

Das PDI macht vor allem Grundlagenforschung. Wie ist es, Pionier zu sein?

Es ist spannend, faszinierend, fordernd und auch manchmal scheinbar müßig, doch retrospektiv sehr erfüllend. Ich würde das gern an einem Beispiel erläutern. Früher war es so, dass die Leute Halbleiter entwickelt haben. In diesen Materialien spielt die Bandlücke eine wichtige Rolle, denn sie bestimmt, welche Wellenlänge und damit Farbe der Halbleiter aussenden kann, wenn er als Lichtquelle – als sogenannte Light Emitting Diode oder LED – betrieben wird. Man wollte zu immer größeren Bandlücken gehen, alle hatten schon Grün oder Rot in den Arseniden realisiert. Blau oder Weiß war das Coole, doch dazu musste man zu Halbleitern mit größerer Bandlücke wechseln. Die Community fing damals an und arbeitete an zwei Materialien: die Mehrheit an Zinkselenit, ein paar auch an Galliumnitrid. Es schien fast klar, wer gewinnt: Zinkselenit, weil es anfangs so viel besser funktionierte. Und damals hat das PDI gesagt: Nein, wir setzen auf Grundlagenforschung und schauen mal, warum die Nitride nicht funktionieren. Und wer hat am Ende das Rennen gemacht? Der Nobelpreis für die Erfindung effizienter blauer Leuchtdioden ging an Wissenschaftler*innen, die auf die Nitride gesetzt hatten. Wir haben am PDI Grundlagenforschung mit betrieben und andere haben es weiterentwickelt. Und was ist das Resultat? Wir gehen in den Baumarkt und kaufen für 3,50 Euro eine LED-Leuchte in dem Wissen, dass sie nur ein Siebtel der Energie einer konventionellen Glühbirne verbraucht und 20-mal länger hält. Das ist der Bogen der Geschichte – und ich bin mir sicher, dass einige der Pioniere, die übrigens heute noch am PDI arbeiten, ein wenig lächeln, wenn sie LED-Weihnachtsbaumbeleuchtung sehen. Manchmal vergessen wir, dass einer der entscheidenden Durchbrüche am Anfang dieses Bogens das Wachstum an Nitriden war. Daraus entstehen für mich zwei Fragen, die es zu adressieren gilt: Wie sorgen wir dafür, dass wir diese und andere Pionierleistungen des PDI klarer kommunizieren? Wie stellen wir uns am PDI auf, dass wir diesen Bogen etwas länger mitgehen, indem wir unsere Kernkompetenzen auch einsetzen, um den für die Implementierung der neuen Materialien in neue Technologien benötigten Reifegrad schneller zu erreichen?

Sie möchten sich also stärker die Anwendungsfrage stellen – als ein Teil der neuen Strategie?

Ja, wir wollen uns zum einen für neue Materialien öffnen und zum anderen beim Technology Readiness Level (TRL) weiter vorangehen. TRL gibt an, wie weit eine Technologie entwickelt ist, es gibt dabei 9 Stufen. Bei Stufe 1 ist noch gar nichts klar, da verfolgt man etwas, um mehr zu verstehen. Und Stufe 8/9 ist: Wir gehen in den Baumarkt und holen uns das Produkt aus dem Regel. Das PDI ist grundlagenorientiert, da hat es auch seine Stärken – es ist nicht zu erwarten, dass wir neue Technologien zur fertigen Produktreife entwickeln. Aber wir können durchaus ein höheres TRL anstreben. Wir haben einen tollen Reinraum, hervorragende Wachstumstechnologie und das dazugehörige Know-how, welches durch die Kompetenz der Strukturanalyse und spektroskopischen Charakterisierung komplementiert wird. Wir können die Umsetzung der Patente besser kultivieren und die Zusammenarbeit mit Industriepartnern, Forschergruppen und Instituten harmonieren. Das PDI ist stark aufgestellt, die unteren TRL zu bedienen. Beispielsweise wurde in einer jetzt kürzlich verteidigten Doktorarbeit dieser Bogen TRL 1 bis 4 gespannt: Es wurde ein neues Materialsystem getestet, das Bauelement – ein Spinventil – ist charakterisiert worden und wir können genau sagen, was und wie viel es bringt und was ein mögliches Anwendungsgebiet sein könnte. Das war alles in vier Jahren möglich, mit der komplementären Expertise diverser Kolleg*innen am PDI. Wir müssen also die Anwendungsfrage schon früh mit in den Findungsprozess einbauen. Wir müssen ein bisschen unsere Kultur ändern und uns fragen: Wir haben etwas Neues, was machen wir damit?

Sie sagen, Sie möchten die Kultur ändern. Betrifft dies noch andere Bereiche?

Ja, ein weiterer Punkt unserer Strategie ist es, diverser zu werden – nicht in der Forschung, sondern bei unseren Mitarbeiter*innen. Wir hätten zum Beispiel gerne Leute im Team, die in unterschiedlichen Ländern und unter verschiedenen Bedingungen aufgewachsen sind. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen haben sie völlig andere Assoziationen, wenn sie ein unbekanntes Problem sehen. Um das mit einem Gleichnis zu verdeutlichen: Wenn man in einem dunklen Haus ist und das Licht in allen Räumen anschalten möchte, denken manche, dass dies nur über Wandschalter möglich ist. Das klappt auch – aber nicht für alle Räume. In anderen stehen eventuell Stehlampen oder die Lampen hängen in der Mitte des Raumes. Das heißt: Wenn sich alle vereinzelt an das Problem machen würden, wären nur ganz bestimmte Lampen im Haus angeschaltet, nur bestimmte Räume erhellt. Wir vergessen auch manchmal, dass wir uns schnell an dem Erfolg berauschen, denn in einigen Räumen brennt ja Licht, oder? Wir kapieren gar nicht, dass wir mit unseren Lösungsstrategien in einem anderen Raum versagen werden. Das heißt, wir müssen diverser werden, denn wir wollen das ganze Haus schnell und effektiv erhellen.

Das PDI ist Teil des Forschungsverbundes Berlin. Was bedeutet das für Sie und Ihr Institut?

Im Forschungsverbund Berlin zu sein, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Es gibt hier Leute, die gut verstehen, was wir brauchen und die uns bei vielen schwierigen Vorgängen unterstützen, wie zum Beispiel Einstellungsprozesse gesetzeskonform umzusetzen.

Und was mir weiterhin gefällt: Weil der FVB mit den unterschiedlichen Instituten so divers aufgestellt ist, können wir voneinander lernen. Zum Beispiel im Bereich Chancengleichheit: In der Physik, in der Grundlagenforschung, sind wir bei diesem Thema auf einem viel niedrigeren Level als in den Lebens- und Umweltwissenschaften. Im FVB haben wir die Chance, ein bisschen in die Zukunft zu schauen und Fragen zu stellen: Wie bist Du dahin gekommen? Worauf muss man achten? Das hilft mir. Der Vorteil ist also nicht nur, dass eine Gemeinsame Verwaltung effektiv sein kann – und damit meine ich nicht billig. Vielmehr habe ich auch Zugriff auf ein breiteres Spektrum an möglichen Lösungen. Das ist eine inhärente Stärke vom FVB.

Und es steht ein Generationenwechsel an, den FVB gibt es jetzt seit 30 Jahren. Viele Leute, die mir zur Doktorandenzeit am PDI geholfen haben, sind teilweise noch hier, gehen aber bald in Rente. Dies beinhaltet zum einen die Herausforderung, nicht alles zu verlieren, was die Leute so großartig aufgebaut haben, und zum anderen die Chance, neue Wege zu begehen. Das ist in den Instituten so – und auch in der Gemeinsamen Verwaltung. Wir können eine Neuausrichtung wagen, ohne unsere Stärken zu vernachlässigen. Das ist einer der Gründe, warum ich hierhergekommen bin.

Die aktuelle Verbundjournalausgabe widmet sich den Karrierewegen in der Wissenschaft. Was möchten Sie jungen Forscher*innen mit auf den Weg geben?

Es ist wichtig, sich klar über sein Ziel zu werden. Man kann bei seiner Wahl ruhig verwegen sein. Ein gesundes Risikoverständnis, Mut zur Lücke – und aufhören zu glauben, etwas perfekt machen zu müssen, sind essenziell. Ich denke, das gilt allgemein und nicht nur für unseren wissenschaftlichen Nachwuchs. Es ist völlig normal, Fehler zu machen. Wir fangen das auf, wir halten das aus, als Team. Verständnis und Fortschritt entstehen durch Analyse sowohl von Erfolg als auch Misserfolg. Fehler haben eine grandiose Funktion im Prozess des Erkenntnisgewinns. Wichtig ist nur, daraus auch Schüsse zu ziehen – dabei kann das Team helfen und Leute, die mehr Erfahrung haben. Wenn man versucht, Fehler zu vermeiden, dann geht man nicht vorwärts – dann geht man nur dorthin, wo bekannt ist, wie man dort keine Fehler macht.

Forscher*innen sollten sich immer am Erkenntnishorizont bewegen und diesen überschreiten – sie müssen vorwärtsgehen und aushalten, dass nicht alles funktioniert. Es ist wichtig, sich mit dem, was gut läuft, zu motivieren. Forschung ist nicht bequem. Umso wichtiger sind unsere Werte bei der Arbeit, die uns stärken und vereinen: eine gute Fehlerkultur, gesundes Selbstbewusstsein, Reflexionsvermögen und Teamfähigkeit. Das PDI ist aktiv bestrebt, die Rahmenbedingungen am FVB so mitzugestalten, dass diese Werte fest in unserer FVB-Gemeinschaft verankert sind.

Das Interview führte Anja Wirsing.

Das Interview ist gekürzt im Verbundjournal 118 | 2022 mit dem Schwerpunkt "Karrierewege" erschienen.