Interview | FVB | 16-07-2021

Zwei Workaholics an der Spree

Wissensstadt Berlin 2021 – zwei Herren trugen maßgeblich dazu bei, dass die Stadt schon zur Kaiserzeit ihre erste Blüte als deutsche Wissensmetropole erlebte: der Geheime Medizinalrat Rudolf Virchow und Hermann von Helmholtz, „Reichskanzler der Wissenschaften“.

Prof. Ursula Klein forscht am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und ist Mitglied der Leopoldina. | Foto: privat

Beide wurden vor 200 Jahren geboren. Ein guter Anlass, um mit Professorin Ursula Klein vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Expertin für Wissenschaft, Technik und Staat während der Industrialisierung Preußens, über das Leben und Wirken dieser Forscher zu sprechen

Frau Prof. Klein, Rudolf Virchow kam 1856 als Professor für Pathologie an die Berliner Universität, Hermann von Helmholtz 1871 als Ordinarius für Physik. Wie kann man sich die Wissenschaftslandschaft in Berlin zu dieser Zeit vorstellen?

Preußen war wissenschaftlich schon länger führend durch die renommierte Berliner Universität und die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften. Aber auch alle zentralen wissenschaftlich-technischen Schulen Preußens waren in Berlin gegründet worden: die Tierarzneischule, die Militärchirurgische Schule – an der Virchow und von Helmholtz fast zeitgleich studierten –, die Bauakademie, die Gewerbeakademie ... Viele dieser Gründungen standen in Zusammenhang mit der Industrialisierung. Die Wissenschaften waren für den Staat aber auch Aushängeschild für Fortschrittlichkeit und Modernität im Wettbewerb mit England und Frankreich. Nach Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 kamen weitere Institute hinzu. Berlin avancierte nun endgültig zur Wissensstadt, wurde parallel zu einem wissenschaftlichen und industriellen Zentrum.

Anders als heute, wo die Spezialisierung oft schon nach den ersten Semestern beginnt, hatten beide Forscher ein sehr breites Betätigungsfeld. Wie kam es dazu?

Die Naturwissenschaften waren damals noch im Prozess der Ausdifferenzierung und das Studienfach von Helmholtz und Virchow, die Medizin, war noch ein Sammelbecken für viele angehende Disziplinen wie die Physiologie, Psychologie, Anthropologie, medizinische Botanik und Chemie ... Eine eigenständige experimentelle Physiologie, für die von Helmholtz später stand, hat sich erst von den 1840er Jahren an entwickelt. Auch die Physik hatte noch viele Überschneidungsbereiche mit der Medizin, Sinnesphysiologie, Chemie usw.

Trifft auf beide der Begriff Universalgelehrter gleichermaßen zu?

Ja, in dem Sinne, dass von Helmholtz nahezu die gesamte Physik abdeckte – Optik, Elektrodynamik, Thermodynamik, Mechanik und Hydrodynamik – und sich darüber hinaus noch mit der Ästhetik (von Tonempfindungen), Physiologie und Psychologie beschäftigte. Virchow war in der Medizin schon etwas spezialisierter. Er befasste sich mit Pathologie, wurde für seine Zellularpathologie berühmt. Sein zweites Standbein war die öffentliche Gesundheitsfürsorge, die sich damals als neue medizinische Subdisziplin herausbildete. Dazu gehörte alles was mit Hygiene zu tun hat, denn die hygienischen Zustände in Berlin waren damals unglaublich! Aber er war auch auf den Gebieten der Ethnologie und Anthropologie aktiv. Insofern ist der Ausdruck Universalgelehrter schon berechtigt.

Welche Rolle spielte die Wissenschaft zu Virchows und von Helmholtz’ Zeiten in der Gesellschaft?

Für die breite Bevölkerung? So gut wie keine. Das ist ein Grund, warum Forscher darauf drangen, die Wissenschaft zu popularisieren und stärker in den Schulunterricht einzubringen. Doch die katholische Kirche zog nicht mit. 1870 erließ der Papst eine Enzyklika, in der er Unfehlbarkeit für sich und großen Einfluss auf das Bildungswesen beanspruchte, was Otto von Bismarck 1871 nach der Reichseinigung massiv zurückwies. Daraufhin kam es zu Auseinandersetzungen mit der Kirche, für die Virchow den Terminus „Kulturkampf“ prägte. Selbst Hermann von Helmholtz, sonst eher politisch zurückhaltend, beteiligte sich daran. In den Salons des Bildungsbürgertums gab es für die Wissenschaften aber breite Unterstützung.

Wie weit ging das Engagement der Forscher?

Bei von Helmholtz nicht sehr weit. Er war liberal, aber angepasst und pro Monarchie. Aus der 1848er Revolution hielt er sich völlig heraus. Seine Frau führte einen Salon, in dem der höchste Adel verkehrte.

Virchow war das genaue Gegenteil – links-liberal und Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei. Während der 1848er Revolution beteiligte er sich sogar am Barrikadenbau, legte sich mit der Obrigkeit an und war – im besten Sinne des Wortes – ein Querdenker. Anders als von Helmholtz wurde er deshalb wohl nicht geadelt. Im Gegenteil: Wilhelm II. verwehrte ihm sogar, ehrende Medaillen aus dem Ausland anzunehmen.

Bemerkenswert ist, wie Virchow seine wissenschaftliche Expertise nutzte, um die sozialen Verhältnisse zu verbessern. Er wurde Stadtverordneter, machte sich für den Bau der Kanalisation in Berlin und die Ableitung der Abfälle auf Rieselfeldern stark sowie für den Bau städtischer Krankenhäuser. Wegen der katastrophalen hygienischen Verhältnisse war es wiederholt zu Cholera- und Typhusepidemien gekommen. Virchow war sich des Zusammenhangs zwischen Armut, Hunger, dem Mangel von Hygiene und Bildung bei der Entstehung von Seuchen bewusst und entwickelte ein umfassendes Programm. Er gilt als Mitbegründer der sozialen Medizin.

Weiß man etwas über ihre Persönlichkeiten?

Verbrieft ist, dass beide wissenschaftliche Workaholics waren, sich aber auch über die Wissenschaften hinaus engagierten. Trotz der nationalistisch-chauvinistischen Tendenzen Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie weltoffen, pflegten intensive Kontakte zu Forschern im Ausland und machten auch den gewöhnlichen Antisemitismus nicht mit. Im Privatleben spielten sie aber die übliche Männerrolle. Sie haben sich darauf verlassen, von Familienangelegenheiten unbehelligt zu bleiben.

Was unterscheidet die beiden von heutigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern?

Vor allem die noch nicht allzu spezialisierte Forschungsarbeit und das damalige Wissenschaftlerethos. Forschung wird heute eher als Beruf aufgefasst, den man abtrennen kann von anderen Interessen, wie etwa Familie und Freizeitaktivitäten, und der natürlich auch mit dem Pensionsalter endet. Damals galt ein Wissenschaftlerleben als lebenslange Berufung, das alle Lebensbereiche umfasst und erst mit dem Tod endet. Die Universität war wie eine große Familie, in der sich ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens abspielte. Man pflegte die Geselligkeit mit allen Wissenschaftlerkollegen. Die heutige hochspezialisierte Wissenschaft geht mit einer sehr viel distanzierteren Einstellung gegenüber der eigenen Tätigkeit einher.

Was bleibt von Virchow und von Helmholtz?

Im Unterschied etwa zu Einstein sind sie nicht durch dieeine große Entdeckung bekannt. Beide haben Hervorragendes geleistet, aber stets auf Gebieten, auf denen auch andere tätig waren – Virchow in Zellularpathologie und öffentlichem Gesundheitswesen, von Helmholtz, stets stärker theoretisch orientiert, in Physik und Physiologie. Damit ist ihr Wirken aber auch typischer für die Wissenschaft insgesamt – denn wissenschaftliche Leistungen bauen immer auf Vorleistungen anderer auf.

In der Corona-Krise erleben wir, welch hohen Stellenwert die Wissenschaft plötzlich in öffentlicher Wahrnehmung, Politik und Medien einnimmt. Wie erklären Sie sich das?

In so einer globalen Krise, die jeden unmittelbar persönlich betrifft, wird von der Wissenschaft sehr viel erwartet – nicht zuletzt, weil ihr bei uns ein großes Vertrauen entgegengebracht wird. Die Regierung musste in diesem Fall auch sofort handeln, und sie stützte sich, wie seit langem üblich, auf Expertengremien und auf Institutionen wie das Robert-Koch-Institut und die Leopoldina. Das trug nicht zuletzt auch zur politischen Legitimierung ihrer Coronamaßnahmen bei.

Zu beobachten ist aktuell aber auch, dass die alte Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften wieder aufgebrochen ist. Historiker, Philosophen und einige Soziologen befürchten, dass die Naturwissenschaftler ihre eigene gesellschaftliche Rolle – nämlich die des öffentlich engagierten Intellektuellen – wahrnehmen könnten. Geisteswissenschaftler sind heute zwar nicht minder spezialisiert als Naturwissenschaftler, glauben aber oft, dass ihnen allein öffentliche und politische Wahrnehmung gebührt. Naturwissenschaftler galten für sie bisher eher als Fachidioten, die nicht über den eigenen Tellerrand blicken können. Und nun sind sie es plötzlich, die in die Öffentlichkeit treten und gesellschaftliche Deutungshoheit gewinnen. Was für eine verkehrte Welt!

Das Interview führte Catarina Pietschmann. Es ist im Verbundjournal 116 | 2021 erschienen.