Artikel | MBI | 12-07-2022

Die chemischen Grundlagen der Biologie entschlüsseln

Seine Zeit am Max-Born-Institut ist für Benjamin Fingerhut zu Ende, seit Juni 2022 hat er eine Professur für Theoretische Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seinen Arbeitsgebieten in der theoretischen Chemie bleibt er aber treu.

Prof. Dr. Benjamin Fingerhut | Foto: Tina Merkau

Die theoretische Chemie bietet eine große Vielfalt an interdisziplinären Forschungsinhalten mit vielfältigen Anknüpfungspunkten zwischen verschiedenen Zweigen der Naturwissenschaft. Auch der aus München stammende Benjamin Philipp Fingerhut hat in seiner Arbeitsgruppe am Max-Born-Institut (MBI) stets großen Wert auf Interdisziplinarität gelegt. Als theoretischer Chemiker nutzt er die quantenphysikalischen Grundlagen von molekularen Strukturen, um biochemische Prozesse zu untersuchen. Dabei ergänzen sich seine theoretischen Studien zur biomolekularen Dynamik gut mit der experimentellen Forschung anderer Arbeitsgruppen am Institut.

Gefördert aus dem Emmy Noether-Programm und dem ERC Starting Grant.

Ein im Jahr 2018 eingeworbener ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) bietet ihm hierbei ausgezeichnete Forschungsbedingungen. Dieses renommierte EU-Förderinstrument gibt Nachwuchsforscherinnen und -forschern die Möglichkeit, in den Jahren nach der Promotion Forschungsprojekte durchzuführen und ein eigenständiges Forschungsprogramm zu etablieren. Nachdem Benjamin Fingerhut an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) promoviert und dort sowie an der University of California als Postdoc gearbeitet hatte, kam er 2014 an das MBI nach Berlin. Dabei half ihm zunächst eine Förderung aus dem Emmy Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, seine Arbeitsgruppe aufzubauen.

Erforschung biochemischer Prozesse mittels Quantenphysik

Mit den Ressourcen des ERC Starting Grant hat er nun vor allem auf zwei Gebieten Schwerpunkte gesetzt. Auf der einen Seite entwickelt er Algorithmen, mit denen sich die Dynamik chemischer Prozesse anhand der fundamentalen quantenphysikalischen Gesetzmäßigkeiten simulieren lässt. Auf der anderen Seite erforscht er die physikalisch-chemischen Wechselwirkungen an biologischen Grenzflächen. Interessant hierbei ist, dass sich auch sehr schnelle biochemische Prozesse dank der raschen Fortschritte in der Lasertechnik mittlerweile gut experimentell im Labor untersuchen lassen. Da das MBI hier schon seit langer Zeit zur Weltspitze gehört, lassen sich theoretische und experimentelle Studien gut miteinander verzahnen.

Bei der Entwicklung von Algorithmen geht es Benjamin Fingerhut um die Möglichkeit, möglichst realistische Systeme zu simulieren. In der realen Laborwelt treten die Moleküle ständig mit ihrer Umgebung in Kontakt, sie wechselwirken mit anderen Molekülen sowie mit ihrem Lösungsmittel. Da die Gesetze der Quantenphysik zunächst einmal für ungestörte Systeme formuliert sind, lassen sich mit ihnen am besten die Quantendynamik von isolierten Systemen ohne äußere Störungen berechnen. Genau die Wechselwirkungen mit der Umgebung sind es jedoch, die für das reale Verhalten bei komplexen chemischen Prozessen verantwortlich sind. Gerade in großen und komplexen Biomolekülen treten unterschiedlich starke Wechselwirkungen auf vielen Ebenen auf: Manchmal sind Quanteneffekte sichtbar, andere Male überwiegen durch thermische Fluktuationen die störenden Faktoren.

Um diese verschiedenen Ebenen in den Griff zu bekommen, gibt es in der theoretischen Chemie Simulationsverfahren, die sowohl die quantenmechanischen Eigenschaften als auch die Umgebungswechselwirkung berücksichtigen. Eine wichtige Anwendung hierfür ist zum Beispiel die  Energiekonversion, wie sie etwa bei der Photosynthese in Pflanzen vorkommt. Solche Simulationen sind allerdings sehr rechenintensiv und verschlingen einiges an Computerkapazität. Deshalb beschäftigt sich die Forschungsgruppe auch damit, diese Berechnungsmethoden möglichst geschickt zu parallelisieren, damit sie auf vielen Computerprozessoren gleichzeitig laufen können.

Der zweite Schwerpunkt der Forschungsgruppe behandelt die Interaktion von biologischen Grenzflächen mit ihrer wässrigen Umgebung, ein ebenfalls hochaktuelles Forschungsgebiet. Denn es gibt zwar zunehmend Daten über die Struktur von Proteinen oder funktionalen RNA-Molekülen, diese dreidimensionalen Strukturen werden allerdings meistens mittels Röntgenkristallographie an kristallisierten Proben gewonnen. Deshalb ist oft nicht ganz klar, wie diese Biomoleküle in ihrer Arbeitsumgebung – den wässrigen Zellen – ihre Funktion entfalten.

Ionen in Wechselwirkung mit Biomolekülen

So binden sich etwa im Wasser gelöste Ionen an bestimmte Stellen der negativ geladenen RNA-Moleküle. Ein besonders wichtiges funktionales RNA-Molekül ist die Transfer-RNA als ein Schlüsselmolekül der Proteinsynthese. Es liefert bei der zellulären Produktion von Enzymen die passende Aminosäure. Es ist schon lange bekannt, dass, wenn Magnesiumionen fehlen, die Transfer-RNA ihre Wirksamkeit verliert, sie also ihre Funktion nicht mehr verrichten kann. Wie sich dank der theoretischen Ergebnisse in der Gruppe von Benjamin Fingerhut gezeigt hat, besitzen Magnesiumionen in Wasser die besondere Fähigkeit, sich direkt an das elektrisch geladene, phosphathaltige Rückgrat der Transfer-RNA anzulagern und sie auf diese Weise zu stabilisieren. Dazu wird pro Transfer-RNA-Molekül nur eine Handvoll Magnesiumionen benötigt.

Diese Ergebnisse sind inzwischen auch von der experimentellen Forschungsgruppe des MBI-Direktors Prof. Thomas Elsässer bestätigt worden. Offensichtlich hat sich die Transfer-RNA evolutionär so entwickelt, dass sie stets auf eine kleine Menge an Magnesiumionen angewiesen war, die ihr das Rückgrat stärkten. Benjamin Fingerhut möchte diese Analysen künftig auf die Bindungsstellen von RNA-Molekülen und Proteinen erweitern.

Er setzt seine Karriere allerdings an anderer Stelle fort. Für ihn schließt sich ein Kreis: Seit Juni 2022 ist er als Professor für Theoretische Chemie an seiner alten Alma Mater, der LMU, tätig. Seinen Arbeitsinhalten bleibt er aber treu: Er wird sich weiterhin mit Algorithmen zur Beschreibung von chemischer Dynamik und mit der Dynamik an biologischen Grenzflächen beschäftigen.

Dirk Eidemüller

Ludwig-Maximilians-Universität München
Theoretische Chemie - Biomolekulare Dynamik
Prof. Dr. Benjamin Fingerhut
Tel. 089 2180-77583
E-Mail benjamin.fingerhutcup.lmu.de